© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/99 19. Februar 1999


Tollhaus Bundeswehr: Staubmäuse, Bewegungsfahrten und das Mineralbad
"Haben Sie auch Gicht?"
Frank Philip

Vor einiger Zeit erschien an dieser Stelle ein Bericht mit Neuigkeiten von der Bundeswehr. Alles hat sich tatsächlich so zugetragen, wie ich es beschrieben habe; höchstens habe ich hier und dort ein wenig übertrieben. Damals bedrückte uns eine kaum verhohlene Gesinnungsschnüffelei, zudem war man körperlich meist ziemlich fertig. Was Wunder also, daß alle das Ende der Grundausbildung wie eine Erlösung feierten.

Zusammen mit einem Dutzend Kameraden wurde am Morgen nach dem Abschlußfest nach Baden verlegt zur Deutsch-Französischen Brigade, Standort Müllheim. Ein kleiner, schlanker Offizier hüpfte vom Trittbrett eines Peugeot-Autobusses und rief uns zu: " Allô, isch bin Sergant-Chef Boublanc. Seid Ihr die neuen Müll’eimer?" Mülleimer? War das unser zukünftiger Kosename? Da wußten wir noch nicht, was uns erwartete...

Die Kaserne liegt mitten in sanft welligen Weinbergen. Sie besteht in der Hauptsache aus großen eckigen Wohnblöcken von der Jahrhundertwende, die ein weites Karree umschließen, dazu noch einige Lagerhallen und Baracken, schließlich ein oberspießiges Mannschaftsheim – das war’s. Uns fiel die merkwürdige Stille auf. Keine lauten Kommandos, keine marschierenden Soldaten, kaum ein Vorhang an den Bürofenstern bewegte sich, nur einige blasse, schmächtige Boten trugen Aktenordner von einem Gebäude zum nächsten. Außer zu den Mahlzeiten belebt sich der zentrale Platz kaum. Hallo, ist da jemand? Wird hier überhaupt gearbeitet? Es ist so verdächtig still.

Jeder, der den Roman "Das Schloß" von Franz Kafka kennt, wird sich beim Betrachten des Standorts Müllheim an dieses erinnert fühlen, jedem Steuerzahler wird sich der Magen umdrehen: In schummrig beleuchteten Büros zählen Soldaten Tarnnetze bzw. die Minuten bis zum Dienstschluß, übergewichtige Obergefreite schlurfen mit dicken Papierbündeln unterm Arm durch die Gänge. Geh bloß nicht zu schnell, sonst hast Du nach dem Mittagessen nichts mehr zu tun! Doch ab und zu zerreißt ein Schrei das dösige Treiben: "An die Arbeit, Männer, an die Arbeit!" Und: "Ora et labora!" versucht der unermüdliche Spieß den trägen Haufen aufzuwecken, um dann hinzuzufügen: "Wir sind auf dem richtigen Weg." (Weniger auf dem richtigen Weg befanden sich dagegen mehrere Versetzungsanträge, welche unter höchst mysteriösen Umständen verschwanden und erst nach Monaten weitergeleitet werden konnten.)

War man es von der Grundausbildung gewohnt, jeden Quadratzentimeter des Bodens mindestens zweimal am Tag mit Besen und Schrubber zu verwöhnen, so bot die neue Kaserne auch in dieser Hinsicht eine Überraschung. Hinter den Spinden tummelten sich zum Teil so fette Staubmäuse, daß sogar die Anschaffung von Fallen bereits erwogen wurde. Zur Begrüßung warteten drei aufgeplatzte blaue Müllsäcke schimmelnd in einer Ecke. "Konsequent anders", so könnte das Motto des Standortes lauten. Betritt man während der Dienstzeit ein beliebiges Zimmer, so findet man mit großer Wahrscheinlichkeit Schlafende vor. Nach dem Antreten legt sich nämlich die halbe Kompanie gleich wieder aufs Ohr. Nicht der Alkoholismus ist die schlimmste Geißel der Armee, es grassiert die Schlafkrankheit. Auch wird von mehreren Wehrdienstleistenden berichtet, die nach Ablauf der zehn Monate in einem Rollstuhl weggefahren werden mußten – die armen Kerle litten an Muskelschwund. Nur der rechte Arm war noch beweglich (Grußpflicht!).

Doch dieses ewige Faulenzen hatte einmal ein Ende. Jemand mußte mich verleumdet haben, jedenfalls holte mich der Spieß, machte mir zwar nicht den Prozeß, gab mir aber ein geheimnisvolles Fernschreiben direkt vom Verteidigungsministerium. Jetzt war es für lange Stunden mein Auftrag, in der Vorschriftensammlung ZDV jeweils das Wort "Verkehrsmittel" handschriftlich durch "Beförderungsmittel" zu ersetzen. Man sieht hier recht deutlich, die neue Regierung setzt eben ganz andere Akzente auch in die Verteidigungspolitik.

Wo der Stillstand herrscht, da müssen wenigstens die Fahrzeuge gelegentlich bewegt werden. "Bewegungsfahrt" nennt sich die Maßnahme, und mir scheint, nur ein furchtbar cleverer Ministerialbeamter (mindestens B 14) konnte diese herrliche Tautologie ersinnen. Bei solchen Bewegungsfahrten lernt man zumindest etwas von der Welt kennen, wenn es einzig gilt, so viele Kilometer Straße wie möglich zu fressen.

Kafka hätte seine Freude gehabt an der Deutsch-Französischen Brigade in Müllheim, das Absurde läßt grüßen: Fahrzeuge werden sinnlos bewegt, Papiere verschwinden und tauchen wieder auf, Boten huschen durch die Gänge, und in den Büros üben stattliche Militärs vor dem Spiegel einen strengen Gesichtsausdruck. Der große Chef ist in Form von Porträts allgegenwärtig, und alle arbeiten an einer geheimnisvollen Zaubersache, von der jedoch niemand etwas Genaues weiß: die nationale Sicherheit. Seit Deutschland nur noch von wohlmeinenden Verbündeten, ja gar Freunden umgeben ist, seit ein klares Feindbild wie die Sowjetunion fehlt, zucken auf die Frage nach dem Sinn alle nur mit den Schultern. Die Liebe zum Vaterland treibt hier kaum einen, eher die Liebe zu einem ruhigen Job bei relativ guter Bezahlung.

Es ist doch so schön bei der D/F-Brigade, die Multi-Nationalität der Einheit bürgt für Qualität, denn wenn Franzosen und Deutsche sich täglich gegenseitig versichern: "Ich hab Dich lieb!", dann leisten sie allein dadurch einen erheblichen Beitrag zum Frieden. So ist sie natürlich auch das Lieblingshätschelkind aller Europa-Politiker, an Geld fehlt es hier nie. Und da komme keiner mit kleinlichen Rentabilitätsüberlegungen, gerade wir als Deutsche!

Es hat den Anschein, als versuche jede Seite noch planloser und unorganisierter zu wirken als die andere. Die Franzosen geben sich redlich Mühe, den Eindruck einer funktionierenden und deshalb potentiell gefährlichen Armee zu zerstreuen, das muß man anerkennen. Die Suche nach dem Standort-Friseur (Coiffeur) etwa dauerte mehrere Tage. Als man ihn endlich in einem abgelegenen Kellerverlies entdeckt hatte, hieß es, man brauche ein Ticket, ohne Ticket läuft nichts, die Ticket-Vergabestelle liege am anderen Ende der Kaserne, sei leider nur sehr selten und zu den ungünstigsten Zeiten geöffnet, außerdem seien die Tickets gerade aus, das könne dauern ... . Währenddessen waren unsere Haare schon so lang gewachsen, daß die Baretts sich wie Ballons blähten, und es stellte sich uns die Frage, weshalb der gute Mann nicht einfach die Schere nehmen und losschneiden konnte. Was für eine Komödie muß die männliche Jugend hier während zehn Monaten spielen? Nur die Stärksten schaffen es, in dieser Lage den Humor nicht zu verlieren.

Das "Überwinden von Gewässern" spielt bei der Völkerverständigung eine nicht unwesentliche Rolle. Wer die Völkerfreundschaft will, muß aufeinander zugehen – wo keine Brücke über den Rhein führt, da schwimmen wir eben. Laut Dienstvorschrift beginnt der mündige Soldat "ab einer Wassertiefe von mehr als 1,20 m selbständig mit Schwimmbewegungen". Und wo lernt man diese am besten? Natürlich im Mineralbad Bellingen! "Hoho, da werden wir mal so richtig die Eier schaukeln lassen!" freut sich der Oberfeldwebel, und schmunzelnd genehmigt auch der Hauptmann diese Ausbildung im Whirl-pool. Doch gerade beim schönsten Planschen unter lauter Rentnern im angenehm warmen Becken taucht plötzlich eine alte Dame vor uns aus der Brühe auf und fragt mitleidig: "Haben Sie etwa auch schon Gicht?" Darauf alle: "Wir tun hier nur unsere Pflicht!"


 
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