© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/99 12. Februar 1999


Gedenken: Zum 10. Todestag von Thomas Bernhard
Eine Sterbensgemeinschaft
Peter Boßdorf

Einen Eklat über das Hoheitsgebiet des Feuilletons hinaus führte Thomas Bernhard erst gegen Ende seines Lebens herbei. Das am 4. November 1988 am Wiener Burgtheater uraufgeführte Drama "Heldenplatz" polarisierte die Österreicher: Daß sie "nach dem Krieg viel gehässiger und noch viel judenfeindlicher gewesen sind als vor dem Krieg" wollten sich viele von der Renommierbühne der Republik herab nicht vorhalten lassen – und dies war ja zudem auch nur eine der vielen Unfreundlichkeiten, die da auf sie niederregneten. Das "Bedenkjahr", in dem man in der Erinnerung an 1938 den Stolz auf die zweite Republik nicht ganz verdrängen wollte, nahm eine schmerzliche Richtung. Dies hat man dem auch mit österreichischen Preisen überhäuften Schriftsteller, den man ansonsten doch so gerne vereinnahmt hätte, heftig übelgenommen.

Drei Monate später, am 12. Februar 1989, vor nunmehr zehn Jahren also, ist Thomas Bernhard tot. In seinem kurz zuvor aufgesetzten Testament hat er eine letzte Revanche genommen und "auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes innerhalb der Grenzen des österreichischen Staates" jede Aufführung, jeden Vortrag und jede Drucklegung seiner Werke untersagt. Er wolle "eine posthume literarische Emigration" erzwingen, so soll er sich geäußert haben – unterdessen ist die Nachlaßverwaltung allerdings nicht mehr gewillt, dieser Verfügung zu folgen.

Die "Heldenplatz"-Affäre und der testamentarische Affront verengen die Erinnerung an Thoams Bernahrd auf eine Facette, die zwar nicht untypisch ist, das Gesamtbild aber in eine Schieflage bringt. In der Tat ist die Karikierung Österreichs als entweder durch und durch nationalsozialistisch oder durch und durch katholisch insbesondere in seinen späteren Werken ein immer wiederkehrender Einschub, den sich die jeweils Monologisierenden erlauben. Auch in anderen Theaterstücken oder Romanen ist die Rede von Parteien, die den Staat zugrunde richten, von Politikern, "die nicht einmal einen Satz korrekt zu Ende führen" können, von Zeitungsredaktionen, "die nichts als skrupellose parteiorientierte Schweineställe" sind. Doch es ist die Ausnahme, daß solche Bemerkungen selbst von denjenigen, die dem Wortsinn nach getroffen sein mögen, als skandalös empfunden werden könnten.

Wer von Bernhards laut Denkenden auf dem Weg, den die Gedanken nehmen, auch diese Stationen streift, hat mit dem, worüber er zu reden vorgibt, längst abgeschlossen, falls er denn überhaupt einmal etwas damit anzufangen wußte. "Ich protestiere gegen nichts mehr / das heißt ja nicht, daß ich nicht dagegen bin/ ich bin ja fast gegen alles / aber protestieren (…) nein." Nicht einmal eine solche Resignation, die immerhin dem Robert Schuster des "Heldenplatzes" in den Mund gelegt wird, will sich aber bei den meisten Figuren Bernhards einstellen.

Historische Begebenheiten oder auch das Gegenwartsgeschehen sind nur Anlässe, um ihnen gegenüber ein Verhaltensritual zu entwickeln, das keiner Motivation bedarf. Die Charakterisierung, die den Protagonisten Bernhards, zumeist vermittelt durch einen Erzähler ohne Eigenschaften, zukommt, ist die bloße Benennung von unerschütterlichen Vorlieben und Aversionen, die sie hegen. Es macht kaum einen Unterschied, ob es sich dabei um Kleidungsstücke, Mobiliar, Zimmer, Orte, Komponisten, Speisen oder Philosophen handelt: Nicht sie sind das Thema, sondern der Geistesmensch, der sich in diesen Koordinaten – selten mit Behagen – einrichtet und in ihnen sein oft groteskes, in jedem Fall aber gleichfalls – hinsichtlich des Gegenstandes – unmotiviertes Projekt betreibt. Dieses Projekt, eine Studie über das Gehör oder über den Kegel zum Beispiel, ist die letzte Zuflucht des Lebens, der Rest ist Erstarrung – der Titel "Frost" von Bernhards Romandebüt hat insofern sogar etwas Paradigmatisches für das Gesamtwerk an sich.

"Das einzig erreichbare Lernziel ist der Tod", läßt Bernhard den Fürsten in "Verstörung" bemerken und benennt damit ohne Umschweife das, was allen Protagonisten illusionslos bewußt ist und sie mit sich selbst allein sein läßt – zugleich aber auch die einzig mögliche Gemeinschaft mit anderen stiftet: "Die Menschen sind nichts anderes als eine in die Millliarden gehende ungeheure auf die fünf Kontinente verteilte Strerbensgemeinschaft."

Dem Tod ist nichts entgegenzusetzen, was für einen Geistesmenschen Bestand haben könnte, auch die Kunst nicht, in der immerhin manche von ihnen Haltung zu wahren suchen – vergeblich natürlich. So kommt der Selbstmord ins Spiel, aber auch eine gewisse Beliebigkeit in der Ausbildung und Pflege von Idiosynkrasien.

Diese Weltsicht erlaubt es auch, mit einem kaum noch zu unterbietenden Maß an Welthaltigkeit auszukommen. Nur wenig ist einer Beschreibung wert, weder de Natur noch die Utensilien der technischen Zivilisation. Namen sind Metaphern: So erfährt der Leser nichts über Montaigne, Pascal, Wittgenstein und vielleicht zwei Handvoll andere Autoren, obwohl immer wieder von Montaigne, Pascal, Wittgenstein und diesen anderen die Rede ist, er wird auch nicht darüber aufgeklärt, was an Schumann und Webern herausragend ist, obwohl Schumann und Webern immer wieder als Favoriten benannt werden, und ihm wird auch nie begründet, was Oxford auszeichnet, obwohl einige Figuren in Oxford Zuflucht finden zu können meinen. Ihre die Grenzen der einzelnen Romane und Dramen sprengende Wiederholung vermittelt den Eigenarten und Idolen etwas Vertrautes und Selbstverständliches. Wer sich darauf einläßt, möchte allenfalls noch einen Namen ergänzt wissen: den von Thomas Bernhard selbst. Das könnte seine literarische Strategie gewesen sein.


 
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