© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/99 12. Februar 1999


Theater: Aribert Reimanns "Lear" an der Semperoper Dresden
Im finsteren Weltraum
Konrad Pfinke

Der König freut sich. Gleich wird er seiner liebsten Tochter Cordelia die Krone seines Reiches aufsetzen, die Reichsteilung wird ein gutes Ende nehmen. Wäre da nicht die Ehrlichkeit seiner Lieblingstochter. Der König stutzt; es ist nicht möglich, aber es ist wahr: die Tochter spricht nur die Wahrheit. Die Welt gerät ins Rollen. Am Anfang steht eine Narrheit im lichthellen Raum, am Ende wird die Welt zerstört, werden die Töchter tot, der König nackt und der Weltraum unendlich finster sein.

Das Stück ist alt wie die Welt, vor 400 Jahren wurde es endlich von Shakespeare notiert, vor 20 Jahren erhielt es eine adäquate Musik. Seit seiner Uraufführung 1979 gilt Aribert Reimanns "Lear" als Meilenstein des modernen Musiktheaters. Die Semperoper hat sich nichts Geringes vorgenommen, als sie "Lear" ins Programm nahm, aber sie hat das Größte gewonnen: einen Opernabend, der in jedem Sinn gewaltig, genau genommen: eine Zumutung ist. Wenn irgend etwas die Berechtigung einer modernen Oper beweisen sollte, so die schlichte Tatsache, daß sie dem Zuschauer Töne und Bilder zumutet, die unsere Welt zu spiegeln vermögen.

Und nun Schluß mit dem Pathos: In Willy Deckers kongenialer Inszenierung, die für die raffinierte Einfachheit von Reimanns schwarzer Musik die einleuchtendsten Bilder findet, rollt das Unglücksstück als Drama zwischen den Zeiten ab. Das beginnt mit einer scheinbaren Totenruhe, elisabethanischen Kostümen an einem langen Tisch und einem Narren von heute. Das geht über in eine schwarze Wüstenwelt, aus der kein Entkommen möglich ist: Hier wölbt sich der Holzboden zur Holzwand, also in die höchste Höhe hinauf. Die Welt hat einen Riß, der nicht mehr zu schließen ist, wenn der König, nun zum Menschen geworden, das Narrenkostüm sich anzieht und die Dornenkrone trägt. Der gute Edgar verkraucht sich in einem Miniaturhaus, das alles andere als eine Behausung ist, und die gute Schwester ist nicht mehr fern, wenn sie mit dem Schiff zu den königlichen Heeren stößt. Dann tritt noch einmal eine scheinbare Ruhe ein: Der König schläft in einem kurzen Frieden, die gute Tochter findet zu ihm, und für einen Augenblick sieht es aus, als könnte alles, alles gut werden, aber die Welt ist nicht nur voller toter alter Männer, sondern auch voll von bösen Bastardsöhnen und machtgeilen Schwestern, die zu viele Schwerter tragen, als daß sie sich verteidigen könnten. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern ein einziger langgezogener Trauergesang: da steht der König als Schmerzensmann, als gefallener Gottvater, die getötete Tochter in den Armen. Er geht ab ins Dunkel, er stirbt nicht: so ist es eben, das sogenannte Leben.

Willy Deckers Inszenierung lebt nicht nur von den großen, sinnfälligen Bildern, den Symbolen von ins Riesige wachsender Weltkugel und überdimensionalem Schwert, die ihm Wolfgang Gussmann entworfen hat, sondern auch vom Ensemble, das mit einer Spannung sondergleichen agiert. Allen voran Victor Braun als Lear, der mit seinem warmen Bariton vom ersten Moment an für sich einnimmt, dann David Cordier als Edgar mt seinen "wahnsinnigen" Koloraturen.

Eva-Maria Bundschuh und Evelyn Herlitzius als böses Schwesternpaar werfen sich mit Verve in die schwierigen Partien, und Ralf Schermuly darf in einer Sprechgesangrolle zeigen, was ein bitterer Narr ist. Den so horrenden wie herzbewegenden, den gräßlich lauten wie kammermusikalisch leisen Orchesterkommentar dirigiert Friedemann Layer, und auch hier folgt ihm die Sächsische Staatskapelle in jener grandiosen Mischung aus Präzision und Anteilnahme, für die sie berühmt ist.

Noch einmal: Der Semperoper gelang mit "Lear" ein Wurf, der nicht selbstverständlich ist. Und glücklicherweise kamen wir nicht nur auf die Welt, um zu weinen, sondern auch, um derart grandiose Abende zu erleben


 
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