© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/99 12. Februar 1999


Vergessene Schriftsteller (Teil I): Der Mythologe Ernst Bertram
Die Legende wirkt fort
Baal Müller

"Die Legende ist die lebendigste Form geschichtlicher Überlieferung. Ihre primitivste wie ihre endgültigste, ihre älteste zugleich und ihre tiefste. Sie allein verknüpft wirklich, als ein jederzeit Wirkendes, Urzeit und Heute; sie nur verbindet den Heiligen und das Volk, den Helden und den Bauern; Prophet und Nachwelt finden sich nur hier. Und einzig in der Form der Legende überdauert die Persönlichkeit."

Um Ernst Bertram, aus dessen 1918 erschienenen Nietzsche-Buch diese Worte stammen, hat sich keine Legende gebildet, außer vielleicht die von seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus. Wenn aber Legende das ist, "was das Wort im nacktesten Sinn besagt", nämlich etwas, "das immer neu zu lesen ist", dann hat Bertram in der Tat Legenden verfaßt. Einer neuerlichen Lektüre empfiehlt sich vor allem sein eben genanntes Hauptwerk, das den am 27. Juli 1884 geborenen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler zu einem der führenden Gelehrten der zwanziger und dreißiger Jahre machte.

Der Untertitel des Buches "Versuch einer Mythologie" hat ihn allerdings nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 in den Ruf gebracht, ein Beschwörer des Irrationalen und damit ein Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Jedoch war der Nationalsozialismus keineswegs die faule Frucht eines spezifisch deutschen Irrationalismus, wie auch heute noch immer wieder behauptet wird, und Bertram hat einen solchen niemals vertreten.

Der seit 1919 in Bonn und seit 1922 in Köln lehrende Germanist bestritt nicht die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung und hat mit seiner an Nietzsche exemplarisch dargelegten Theorie des Mythos keine Hagiographie betrieben, sondern er versuchte, den damals noch vorherrschenden Historismus, seine Tendenz zu Nivellierung, zu Faktenhuberei und Überspezialisierung zu überwinden. Die Geschichte ist nach Bertram keine Ansammlung von Fakten, die es nur zu rekonstruieren gelte; statt dessen betrachtet er sie, auf die moderne Hermeneutik vorausweisend, als eine sich im Medium der Legende vollziehende Überlieferung. Die Legende besteht nicht aus didaktischen Fabeln oder abenteuerlichen Sagen, sondern sie ist gleichsam das kollektive Gedächtnis einer Traditionsgemeinschaft. Mythologisch ist ihr narrativer und bildhafter Charakter, nicht eine größere Unglaubwürdigkeit im Vergleich mit den historischen Daten, die ihre Ausbildung weder fördern noch hemmen. Dem Gegenstand der Legende, also vornehmlich dem großen Individuum, eignet seine Bedeutung sowohl aufgrund von Werk und Erscheinung als auch vermöge der sich beständig transformierenden Interpretation und Sinnstiftung der Diskursgemeinschaft. Der sich daraus ergebende, an Nietzsche geschulte Perspektivismus macht Bertrams Haltung weniger elitär als seine Betonung der historischen Größe auf den ersten Blick nahezulegen scheint; schließlich ist es für ihn zwar die einzelne herausragende Persönlichkeit, welche die Geschichte stiftet, aber ebenso auch die Leistung nachfolgender Generationen, die sie sich immer wieder neu aneignet. Der zeitliche Abstand ist somit für die historische Erkenntnis nicht hinderlich, sondern geradezu konstitutiv, da erst durch das allmähliche Heraustreten des Gültigen das Unwesentliche verschwindet. Von erstaunlicher Aktualität ist vor allem Bertrams Erkenntnis vom weniger beschreibenden als vielmehr erschreibenden und in diesem Sinne poetischen Charakter der Geschichte.

Schwerer läßt sich allerdings für den heutigen Betrachter die Bruchlosigkeit seines Geschichtsmodells nachvollziehen. Bertrams Auffassung nach wirkt die Legende in Urzeit und Moderne gleichermaßen, ungeachtet der Katastrophen und selbst des enormen Traditionsverlustes und Bildungswandels, die ein solches Kontinuum fraglich erscheinen lassen. Für den modernen Kulturkritiker geht es nicht mehr darum, eine kaum noch wirkende Tradition bloß fortzusetzen, und erst recht nicht darum, bereits abgestorbene Traditionen noch einmal zu töten oder "aufzuarbeiten", sondern er hat seine Tradition überhaupt erst neu zu gewinnen und zu erschaffen.

Wegweisend ist allerdings Bertrams Gedanke der Nachzeitigkeit historischer Erkenntnis; gerade seine zwiespältige Haltung zum Nationalsozialismus illustriert die Tatsache, daß Zeitgenossenschaft nicht vor Irrtümern schützt. Wie viele Vertreter seiner Generation sah Bertram den Nationalsozialismus im Vergleich mit dem Bolschewismus des Ostens und der Zivilisation des Westens als das kleinere Übel; zusätzlich hat ihn seine nordisch-germanische Orientierung, die etwa aus den Gedichten seines "Nornenbuches" (1925) spricht, zu einer vorübergehenden Bejahung des Dritten Reiches, etwa in der berüchtigten Rede "Deutscher Aufbruch" (1933), prädestiniert. Schon bald weicht diese Haltung einer zunehmenden Opposition: Bertram kritisiert die Bücherverbrennung, weigert sich der Reichsschrifttumskammer beizutreten und bietet der Universität schließlich den Rücktritt von seinem Lehrstuhl an.

Dennoch erhielt er von den Alliierten zunächst Lehrverbot, das jedoch bald wieder aufgehoben wurde, da einige der gegen ihn erhobenen Vorwürfe auf verblüffenden Fehlinformationen beruhten. So wurde ihm etwa die Annahme eines "Göbbels-Preises" zur Last gelegt, der in Wirklichkeit der Görres-Preis gewesen ist. Durch die juristische Rehabilitierung wurde sein Ruf jedoch nicht gänzlich wiederhergestellt, und seine für heutige Maßstäbe pathetische Sprache sowie sein der Nachkriegswissenschaft nicht entsprechendes Geschichtsbild trugen dazu bei, ihn allmählich in Vergessenheit geraten zu lassen.

Am 3. Mai 1957 ist Ernst Bertram verstorben. Der Fachwissenschaft blieb er als Autor des legendären Nietzsche-Buches, als Freund und Briefpartner Thomas Manns sowie als Vertreter des Georgekreises in Erinnerung, dem er allerdings nur mit Vorbehalt zuzurechnen ist. Sein umfangreiches Werk umfaßt neben zahlreichen Aufsätzen und Reden auch eine Fülle von Gedichten und Aphorismen.

Letztere hat er in späteren Jahren mit großer Meisterschaft gehandhabt, wie sein vielleicht schönstes Werk "Der Wanderer von Milet" (1956) zeigt: "Wenn du bis zum Okeanos vordringst, so wird der aufhören, die äußerste Grenze zu sein. Und jenseits werden dir Länder erglänzen, die du nicht ahntest und die du nicht betreten wirst. Aber das Schreckliche wird kommen, wenn es keine unbekannten Länder mehr geben wird. Denn die Menschen leben vom Unbekannten und vom Verlangen nach dem Horizont, der vor ihnen entweicht. Sie behalten ihr Heimweh nach dem Lande, wo der Fluß des Regenbogens auf der Wiese eines Paradieses steht."


 
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