© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Ein Volk steht am Scheideweg
von Herbert Bath

Ende 1997 (für das vergangene Jahr liegen noch keine Zahlen vor) lebten in Deutschland 7,365 Millionen Ausländer, 50.000 mehr als im Vorjahr. Davon waren 2,107 Millionen Türken, 0,721 Millionen Jugoslawen, 0,607 Millionen Italienern, 0,363 Millionen Griechen und 0,283 Millionen Polen. Es folgten 281.000 aus Bosnien-Herzegowina, 206.000 Kroaten, 185.000 Österreicher, 132.000 Portugiesen und 131.000 Spanier. Der Rest verteilte sich auf dreizehn weitere Länder mit mehr als jeweils 50.000 sowie auf eine Vielzahl anderer Nationalitäten mit jeweils unter 50.000 . Gegenüber dem Vorjahr haben die Türken um 58.000 zugenommen, die Jugoslawen um 30.000, die Bosnier um 60.000 abgenommen.

Da häufig argumentiert wird, die Ausländer wünschten eine Erleichterung ihrer Einbürgerung, interessiert die Frage, wie die einzelnen Ausländergruppen dazu stehen. Aus einer repräsentativen Umfrage der Offenbacher Forschungsgesellschaft Marplan vom Sommer 1998 geht hervor, daß vor allem die Türken an einer Einbürgerung interessiert sind und hier vor allem die Altersjahrgänge bis 25 Jahre. Dagegen waren die Jahrgänge über 46 kaum interessiert.

Wenig interessiert waren auch die EU-Ausländer. Etwa zwei Drittel der Spanier, Italiener und Griechen ließ die Frage ziemlich kalt. Natürlich konnten Türken auch bisher schon die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, mußten aber die türkische aufgeben. Das wollten die meisten nicht. Ihnen will die rot-grüne Bundesregierung entgegenkommen. Die Frage der Doppelstaatsangehörigkeit meint also konkret die Doppelstaatsangehörigkeit der Türken. Um sie geht es wegen ihrer Zahl und wegen ihrer Interessenlage.

Die Türken haben denn auch über ihre Verbände seit Jahr und Tag ihre Einbürgerung gefordert – unter Beibehaltung des türkischen Passes, versteht sich. Ihre Argumentation ist denkbar einfach: Wir sind lange genug hier und wollen hier bleiben; daher müssen wir als Staatsbürger mit den Deutschen gleichgestellt werden. Solange für die Einbürgerung der Verzicht auf den türkischen Paß die Voraussetzung war, hielten sich die Einbürgerungswünsche freilich in Grenzen. Rechtliche Nachteile für Türken, die früher bei Aufgabe der Staatsbürgerschaft bestanden, sind inzwischen durch das türkische Ausländerrecht abgeschafft worden. Sie waren auch nicht der eigentliche Grund für die Zurückhaltung.

Durch eine Änderung des deutschen Staatsbürgerrechts 1991 erhielten bestimmte Gruppen einen Anspruch auf Einbürgerung, allerdings unter Voraussetzung des Verzichts auf die bisherige Staatsbürgerschaft. Gleichwohl machten auch Türken zunehmend davon Gebrauch. Die Einbürgerung ist also entgegen verbreiteten Behauptungen schon seit 1991 wesentlich erleichtert worden.

Allerdings umgingen viele Türken die Voraussetzung ihrer Einbürgerung, indem sie hinter dem Rücken der deutschen Behörden die türkische Staatsangehörigkeit erneut annahmen. Deutsche Sanktionen gegen dieses unaufrichtige Verhalten sind nicht bekannt geworden, wären auch möglicherweise durch Artikel 16 des Grundgesetzes ausgeschlossen, wonach die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf. Diese Bestimmung macht alle Entscheidungen bei der Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit äußerst riskant, weil sie unwiderruflich sein könnten – ein einmaliger Zustand in der ganzen Welt.

Tatsache ist also, daß Türken mit dem deutschen Paß in der Tasche bleiben wollen, was sie sind. Denn für sie ist, wie es dieser Tage eine naturalisierte Türkin in unüberbietbarer Deutlichkeit ausdrückte, Nationalgefühl keine Frage der Papiere, sondern der Kultur und Religion. Die Einbürgerung wird von ihnen als reine "Mitnahme" gesehen. Jeder Deutsche, der hören will, kann es hören.

Dennoch setzt an diesem Punkt der Streit um die Doppelstaatsangehörigkeit an. Die rot-grüne Koalition meint, daß erst durch die deutsche Staatsbürgerschaft eine volle Integration der Türken stattfinden werde und daß man dafür deren Doppelstaatsbürgerschaft in Kauf nehmen müsse.

Die Gegner lehnen die Doppelstaatsangehörigkeit grundsätzlich ab. Sie sehen darin keine Erleichterung der Integration, sondern eine Erschwerung, wenn nicht sogar eine Verhinderung; denn die Türken erhielten damit die Erlaubnis, in Deutschland gleichberechtigt als Türken zu leben.

Die Formel von "Integration" wurde in den sechziger Jahren entwickelt als Entgegensetzung zur "Assimilation", aber auch als Gegensatz zur Rotation, das heißt zur Rückkehr nach befristetem Aufenthalt. Die Formel von "Integration" diente schließlich, nachdem man gegen die Rotation entschieden hatte, als verschwommene Zielsetzung für Maßnahmen der Eingliederung, besonders auch um den "türkischen Gastarbeitern" verständlich zu machen, warum ihnen in Schule und Beruf deutsche Sprachkenntnisse und deutsches Arbeitsverhalten abverlangt wurden. Der Nachteil war, daß "Integration" als bloße Worthülse nichts Faßbares besagte und von niemandem definiert oder auch nur beschrieben werden konnte.

Das ist bis heute so geblieben. Ist die türkische Mutter, die seit 20 Jahren hier lebt, aber mit ihrem Mann und ihren Kindern nur Türkisch spricht, integriert? Sind es die Kinder, die im Schulunterricht Deutsch radebrechen, aber schon in der Pause mit ihresgleichen nur Türkisch reden? Sind es die Männer, die sich auf der Baustelle verständigen können, aber abends nur türkisches Fernsehen anschalten? Oder ist die junge Türkin mit vorzüglichem Deutsch und bestandenen akademischen Prüfungen integriert, die mit Stolz ihr Kopftuch trägt und auf ihre Kultur und Religion verweist? Oder ist es jener Türke, der inzwischen Professor an einer deutschen Universität ist, aber wie selbstverständlich davon ausgeht, daß junge Türken sich ihre Ehepartner aus der Türkei holen und die damit verbundene Migration hingenommen werden muß? So sicher wie Assimilation nur im Einzelfall geht, so sicher ist die Integration von Millionen Fremder "eine Chimäre" (Horst Mahler).

Was für die Doppelstaatsangehörigkeit vorgebracht wird, ist inhaltlos, phrasenhaft oder sachlich falsch. Innenminister Schily behauptet, sie diene der Befriedung der deutschen Gesellschaft. Das ist wenig überzeugend, weil Gewalttäter auf Staatsangehörigkeit wenig Rücksicht zu nehmen pflegen. Aber naturalisierte Türken als Täter können dann selbst bei schwersten Delikten nicht mehr abgeschoben werden. Oder Schily sagt, der doppelte Paß solle nicht weiterer Zuwanderung dienen. Doch ist das genau der Fall, weil Türken, die deutsche Staatsbürger sind, ihre Familienangehörigen aus Anatolien nachholen können, ohne dabei durch ein Ausländergesetz noch wirksam gebremst zu werden. Insofern hat Wolfgang Schäuble recht, wenn er eine weitere Einwanderungswelle befürchtet.

Verschwiegen wird meist der heikle Punkt, daß sich die Linksparteien möglicherweise ein nennenswertes Wählerpotential unter den Doppelstaatlern versprechen, denn diese haben, in Deutschland lebend, das aktive und passive Wahlrecht.

Die Gegner der Doppelstaatsangehörigkeit haben alle Argumente für sich. Man kann eben nur eine Mutter haben und nur ein Vaterland. Abzulehnen ist auch eine Ungleichheit zwischen deutschen Staatsbürgern, die aufgrund eines staatlich geregelten Verfahrens, also im Normalfall, außerdem noch die türkische Staatsangehörigkeit haben. Die rechtlichen Konsequenzen wären wegen des staatsrechtlichen Novums überhaupt noch nicht abzusehen.

Hinzu kommt, daß die Aufnahme Fremder in die deutsche Nation nicht als einmaliger Akt, sondern als laufender Prozeß gedacht ist, dessen Ausmaß niemand kennt. Da es sich um die permanente Veränderung des Staatsvolkes durch Aufnahme fremder Angehöriger handelt, wird man zweifeln dürfen, ob so dem deutschen Volke gedient wird und ob derartige Maßnahmen geeignet sind, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden, wozu die Verfassungsorgane verpflichtet sind. Es stellt sich die Frage, ob ein solcher Austausch des Staatsvolkes durch einfaches Gesetz bewirkt werden kann oder die Änderung des Grundgesetzes voraussetzt.

Die türkischen Absichten laufen praktisch auf die Etablierung einer türkischen Minderheit in Deutschland hinaus, die – mit dem Völkerrecht im Rücken – politische Forderungen geltend machen kann. Türkisch als Amts- und Gerichtssprache sowie als Unterrichtssprache in separaten öffentlichen Schulen oder auch türkische Straßennamen wären daher nur eine Frage der Zeit. Für die Realisierung sind Beamte, Richter und Lehrer türkischer Nationalität nötig, die dann schon für alles weitere sorgen werden.

Da hilft es wenig, wenn Schily laut einer dpa-Meldung aus München Minderheitsrechte für Ausländer mit doppelter Staatsangehörigkeit ablehnt. Immerhin ist dem Herrn Bundesinnenminister das Problem als solches schon aufgegangen. Wenn er allerdings fortfährt, es könne nicht sein, daß eine "türkische Minderheit" in Berlin verlange, Straßenschilder in Kreuzberg auch türkisch zu beschriften, fällt einem nur noch Morgenstern ein: "Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf."

Schließlich: Die Verteilung der deutschen Staatsangehörigkeit an Türken hat Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten der EU, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Wenn ein Mitgliedsland sein Staatsangehörigkeitsrecht so extrem regelt, ist das keine konstruktive Europa-Politik, sondern die Ausbreitung des Chaos. Das Gesetzgebungsvorhaben der Doppelstaatsangehörigkeit würde auch gegen das Staatsangehörigkeitsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihren Nachbarländern verstoßen, daß eine Doppelstaatsangehörigkeit ausdrücklich untersagt.

Alles in allem: Widersprüche und Risiken auf der ganzen Linie. Wie kann eine Regierung vollmundig tönen, die Arbeitslosigkeit abzubauen sei ihr Hauptziel, wenn das Heer der Arbeitslosen durch Ausländernachzug permanent vergrößert wird?

 

Herbert Bath, Jahrgang 1926, war Schulleiter und Referent für Bildungsfragen in der Berliner Senatsschulverwaltung. Von 1966 bis 1991 war er Landesschulrat in Berlin.


 
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