© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Literatur: Volker Braun und die marxistische Dialektik
Denken in Widersprüchen
Andrzej Madela

Daß Marxismus in DDR-Gestalt ein toter Hund sein muß, ließ sich 1989/ 1990 auf zweierlei Art erleben. Zum einen als Tourist in Ungarn, wo DDR-Bürger zu Tausenden nach Österreich stürmten, darunter nicht wenige, die für die Freiheit selbst ihren Trabant geopfert hatten. Zum anderen in den (Ost-) Berliner Antiquariaten, die nun schlagartig überquollen vor einer Literatur, welche noch gestern die unverfälschte und eigentliche Stimme ihres Landes gewesen sein sollte. Geradezu über Nacht verkaprizierte sich der Leser darauf, Hermann Kant, Rudi Strahl und Fritz Rudolf Fries aus dem Bücherschrank zu entfernen; Christa Wolf gab es gleich kiloweise, und Bruno Apitz war plötzlich nur noch für die Mülltonne gut.

Wer sich damals noch für Dialektik, gar Marxismus einen Nerv bewahrte, mußte entweder DDR-Schriftsteller oder Philosoph sein, schlimmstenfalls beides. Da mutete es schon seltsam an, daß Volker Braun, der gleich beide Bedingungen erfüllt, in keinem Antiquariat zu finden war, übrigens auch dort nicht, wo der gehobene Ramsch eines Carl Amery bzw. eines Georg Lukacs gehandelt wurde. Im Gegenteil: Anfang der neunziger Jahre erlebte er mit dem Band "Bodenloser Satz" einen Boom, der nahtlos an den Erfolg des 1985 in der DDR erschienenen "Hinze-Kunze-Romans" anknüpfte. Der heute knapp 60jährige ist in dem vereinigten Deutschland einer der angesehensten Autoren, obwohl er von Lebenslauf, Denkweise und Überzeugung her nur bedingt in die vorherrschende Geisteströmung seines Landes paßt.

Volker Braun ist wahrscheinlich der letzte große Dialektiker unserer Literatur im 20. Jahrhundert. Das merkt man auf Anhieb: aufgeklärter Sprachgestus, stringentes Widerspruchsbewußtsein und – ganz marxistisch – Schreiben als Denkarbeit, als mühsam vorangetriebenes Stück Emanzipation sind die Markenzeichen seiner Arbeit. Es dauert höchstens Minuten, bis man seine große Lust am Denken in Widersprüchen entdeckt, eine scheinbar mühelose Zerlegung von Worthülse und Wortsinn und die geschliffene Kunst geschichtlichen Arguments.

Das ist auch in seinem jüngsten Buch nicht anders, der erst kürzlich im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienenen Sammlung von Aufsätzen, Reden und Mini-Essays aus dem letzten Jahrzent, die sich allesamt mit Kulturaspekten des neuen Deutschland befassen. Daß es Denkbarkeit in Hülle und Fülle geben wird, kann der Leser getrost unterstellen, daß es dabei unterhaltsam zugeht, ebenso.

Beides kündigt sich bereits im Titel an. "Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende" vermischt absichtsvoll zwei Redeweisen und Welthaltungen zu einem Ganzen: belangloses Versatzstück der Alltagssprache die eine, bestürzende Einsicht in einen sozialen Totalverschleiß die andere. Aber sie sind offensichtlich nur im Doppelpack zu haben, ein (angedeuteter) persönlicher Wohlstand setzt die Grablegung von Utopie voraus. Letzteres geschieht nicht ohne inneren Schmerz, das merkt man dem Text sofort an. Doch der Philosoph Braun findet für das Scheitern seines Ideals die richtigen Worte, ja er motiviert sich selbst, den Zusammenbruch in Erkenntnisgewinn umzuschmieden: "Wir aber, Philosoph, geh’n auf das Feld der Niederlage, wo unser Brot wächst."

In einem Mini-Essay, der an die Erkenntnisse seines Theaterstücks "Großer Friede" (1979) anknüpft, entwirft er seine eigene Theorie des Scheiterns. Für ihn liegt die Ursache nicht im Widerspruch zwischen tatsächlicher und deklarierter Verfügungsgewalt über das Volkseigentum. Sie steckt tiefer, viel tiefer, nämlich im Charakter von Arbeit selbst, den die sozialistischen Länder unverändert übernommen hatten: "Die vertikal geteilte Arbeit produziert aus sich heraus die Strukturen der Unterdrückung." Letztere sieht er im Sozialismus zwar kunstvoll zugekleistert, letztlich aber nicht aufgelöst, was zur Folge hat, daß eine "Umwälzung, die nicht den Grunde berührt, der die Arbeit ist, versumpft und sich wieder in alter Geschichte findet".

In alter Geschichte also. Wer von Marxismus auch nur etwas Ahnung hat, weiß, daß damit die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gemeint ist mit ihrem permanent ungelösten Widerspruch zwischen Eigentum und (Lohn-)Arbeit. Gerade diese Geschichte stürmt Anfang der neunziger Jahre in die Ex-DDR hinein und erobert sie in atemberaubender Schnelligkeit. Daß die Niederlage eine verdiente ist, daß die alte Geschichte sozusagen ihr eigenes Frühstadium (ergänzt allenfalls um einige Nebenaspekte) zurückbekommt – daran läßt der Autor keinen Zweifel aufkommen: "Es kann kein Zufall sein, daß die eine Gesellschaft die andere in Grün ist und sich unsere Erfahrungen ähneln wie ein Überraschungsei dem anderen."

Vielleicht liegt das Geheimnis seines Erfolges gerade darin, in der Entdeckung einer gleichgerichteten Tendenz beider deutscher Rumpfstaaten. Einer Entdeckung mithin, die zum gleichbleibenden Abstand zu beiden geradezu provoziert und jegliche Euphorie schon im Keim erstickt. Ebenfalls wahrscheinlich ist, daß er in der deutschen Literatur des auslaufenden Jahrhunderts ein Feld besetzt, das seit Jahren als völlig verwaist gilt – Literatur als Gesellschaftskritik – und das in den siebziger Jahren so glänzend von Enzensberger und Walser beackert worden ist.

Im letzten Jahrzehnt sind nur sehr wenige große Essays zur Kulturverfassung in Deutschland erschienen, darunter die von Karl-Heinz Bohrer und Botho Strauss. Doch während ersterer sich wenigstens noch dazu aufraffen konnte, der DDR-Literatur zumindest ansatzweise Welthaltigkeit (bei allgemeiner Tendenz zu Provinzialität) zu bescheinigen, unterwarf letzterer die medial vermittelte Kultur der Gegenwart einem Pauschalurteil, das die Kunst der Differenz von vornherein mattgesetzt hatte.

Das macht Braun die Arbeit nicht gerade leichter, fordert ihm aber ein Differenzierungsvermögen ab. Es ist schon eine Drahtseilakrobatik dabei, wie er einerseits der totalitären Utopie einen passenden Sarg zurechtzimmert und andererseits peinlich auf Abstand zum Pseudo-Geist des neudeutschen Klimbim bedacht ist.

Und es zeigt sich, daß Brauns Dialektik der neuen Gesellschaft mühelos gewachsen ist. Selbst dort, wo der Autor irrt – etwa in einem Aufsatz über den Realsozialismus und seine innere Wahrheit (als läge die Wahrheit irgendwo anders als in ihm selbst) –, erweist sich sein Denken als geschichtsbewußt und dessen Ergebnis als unabgeschlossen. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, daß seine Bücher beim Leser wie Bomben einschlagen.


 
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