© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Pankraz,
Hegesias und das Dilemma der modernen Lustmolche

Lusterfüllung, so tönt es heute in vielen intellektuellen Quartieren, sei der einzige Zweck des menschlichen Daseins. Nur derjenige sei wahrhaftig glücklich zu schätzen, der am Ende seines Lebens sagen könne: "Ich habe es geschafft, mir alle meine Lüste zu erfüllen und zwar auf optimale Weise, ich habe jeden Genuß voll ausgeschöpft, und so habe ich mein Leben wahrhaft genossen und es nicht wegen irgendwelcher Schimären verplempert."

Was bei solchem modischen Gerede immer wieder erstaunt, ist die horrende Unbelehrtheit, die es begleitet. Es gibt, im Gegensatz zu früheren Epochen, faktisch keine Anweisungen zur sogenannten "Lebenskunst" mehr, nur noch Auskünfte von Briefkastentanten. Und dabei gerate ich doch als Genießer und Lustmolch dauernd in Schwierigkeiten, schon allein deshalb, weil sich die diversen Genüsse nur allzu oft in die Quere kommen.

Soll ich jetzt mit der oder der ins Bett zu kommen versuchen? Soll ich sie groß in teure Restaurants ausführen, was mich ja eine Menge Geld kostet, das unter Umständen besser für andere Genüsse angelegt wäre, oder soll ich knickerig sein und mir dabei vielleicht sogar noch eine Extralust verschaffen, ein "kleines Lüstchen", wie Nietzsche spottet, das etwa darin bestehen könnte, daß es mir als geborenem Geizhals Lust macht, soundso viel an Restaurantkosten eingespart zu haben?

An sich wäre notwendig, sich ein großes Wissen über den Lustapparat zu verschaffen, über den Lustapparat allgemein und speziell noch über den je eigenen. Die primäre Frage, die sich dabei stellt, lautet: Soll man wirklich "voll ausschöpfen", den Genuß bis zu der berühmten "Neige" auskosten? Die Neige schmeckt doch schal, bereitet Unlust. Muß man nicht gerade aus Gründen der Lust immer wieder ganz schnell mit dem Genießen aufhören?

Immer in die Vollen zu gehen, zieht doch nur allzu oft frühes Siechtum und vielleicht sogar frühen Tod nach sich. Muß man jetzt pingelig sein, um auch noch bis ins hohe Alter genießen zu können? Was verschafft mir mehr Glückseligkeit: die ungeheure, triumphale Vollwonne des gelebten Augenblicks oder die Einteilung der Lust in kleine Quanten, so daß man eine große Strecke lang zwar nicht voll, aber doch gemütlich "genießen" kann?

Eine weitere Anschlußfrage ist die, inwieweit man sich zum "Sklaven" seiner Lust machen darf. "Zur Glückseligkeit gehört", so soll das Urbild aller Lustmolche in der Antike, der alte Artistippos, gelehrt haben, "sich am Genusse zu freuen und doch nicht sein Sklave zu werden."

Ist "In die Vollen gehen" und "Sich zum Sklaven machen" nicht dasselbe? Wenn ich einem anderen in wahrhaft verzehrender Lust verfallen bin, dann ist das in der Regel mit ziemlich viel Unlust verbunden. Ich erniedrige mich meiner Lust zuliebe, nehme große Strapazen auf mich, ruiniere mein Vermögen, meine bürgerliche Reputation – alles Quellen der Unlust. Aristippos sagt: Die Unlüste bündeln sich allmählich zum puren Schmerz, und ab einem gewissen Zeitpunkt fängt der Schmerz an, schwerer zu wiegen als die Lust. Das ist dann die Sklaverei.

Aber vielleicht ist Lust von vornherein mit dem Schmerz verwandt, und zwar nicht nur in dem groben Sinne des Masochismus, sondern beispielsweise auch darin, daß ja jeder Liebeslust ein sogenannter "süßer Schmerz" beigemischt ist, den der echte Hedonist nur ungern missen möchte. Verschafft es nicht erst wahre Lust, eine schwere, schmerzhaltige Affäre (oder auch Arbeit) hinter sich gebracht zu haben und nun im Vollbewußtsein und in der Erinnerung des vollbrachten Abenteuers auszuruhen?

Einer der größten Lustmolche, die je gelebt haben, Hegesias, "der zum Tode Überredende", hielt ausgerechnet den Tod für den größten Lustbereiter. Wenn es, gab er zu bedenken, die höchste Glückseligkeit ist, nicht andauernd von Lüsten versklavt zu werden, die nach Erfüllung schreien, sondern von ihnen auszuruhen, dann sei der Tod doch das Beste, was einem passieren könne. Denn allein im Tod ruhen wir friedlich, ohne die geringsten Bedürfnisse mehr, und Schmerz empfinden wir auch nicht mehr.

Da biß sich also der Hedonismus gewissermaßen in den Schwanz. Es kam plötzlich heraus, daß er buchstäblich auf nichts gebaut war, daß er das Paradox an sich war. Wir sind nicht auf der Welt, so kam heraus, um glücklich zu sein, denn wirklich glücklich sein kann man nur im Nichts.

Was wir im Leben an Glück genießen können, das ist kein Kontinuum, sondern das sind allenfalls Momente höchster Betroffenheit, greller Erleuchtung, Augenblicke, wo wir uns mit der Welt, mit dem "Sein", in höchster Übereinstimmung befinden und alle Fragen aufhören. Solche Augenblicke gibt es, aber sie sind nicht nur schrecklich vergänglich, sondern sie liegen auch voll im Windschatten der Wahrnehmung, wir erfassen sie gar nicht richtig. Es existiert ein "Dunkel des gelebten Augenblicks" (E. Bloch).

Für das Leben als ganzes gibt es kein Happy-End: das Ende ist immer der Tod, der unserem Leben von sich aus keinen Sinn, keine Folie und keine Dauer, mit einem Wort: keine Glückseligkeit verleiht. So bleibt wohl nur übrig, diesen Sinn – Pankraz riskiert das anspruchsvolle Wort – aus der "Transzendenz" heraus zu postulieren, aus dem, was nicht zum Nennwert zu haben ist, was nur im Horizont der Hoffnung aufscheint und deshalb auch nie bis zur Neige geleert werden kann.

Das Problem des schalen Nachgeschmacks, das allen verbissenen Hedonisten so sehr zu schaffen macht, existiert für die Transzendentalisten schon mal nicht. Der Transzendenz kann man auch nicht sklavisch verfallen, sie gibt Halt und Struktur, und sie reicht über den Tod hinaus. Genau betrachtet sind die Transzendentalisten die besseren Hedonisten.


 
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