© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/99 29. Januar 1999


Theater: "Fortschritt" von Louis-Ferdinand Celine in Bonn
So ist halt das Leben!
Peter Boßdorf

"Alles verschwört sich gegen den ehrbaren Mann. Er wird von finsteren Mächten belauert, er liebt die Offenheit, ist ohne Arg, und alles ist in der Loge bekannt": Manche der amüsanten Obsessionen, denen Louis-Ferdinand Celine literarische Gültigkeit verlieh, erschienen ihm offenkundig bereits in seinem dramatischen Frühwerk mitteilenswert. Der Romancier wird durch den Theaterautor vorweggenommen. Doch machte er sich mit seinem erzählerischen Werk später auch einen Namen (und nicht nur Feinde), so gelang es ihm nicht, jemals auf der Bühne zu reüssieren.

Die überschaubaren (und 1997 vom Merlin-Verlag in deutscher Sprache edierten) Versuche, das Blatt zu wenden, versandeten mehr und mehr in Skizzen, zuletzt für das Ballett. Das geringe Zutrauen des Autors in die eigene dramatische Begabung, das daraus zu sprechen scheint, wird jedenfalls von der Kritik breit geteilt. Zumindest für das Debüt, die 1927 entstandene (und 1933 unmittelbar nach seinem ersten Romanerfolg veröffentlichte) Komödie "Die Kirche", ist aber Geringschätzung voreilig und eher der Ausweis einer Praxis des unausgewiesenen Zitats denn einer genauen Textkenntnis. Mehr als diese gnadenlose Attacke auf all das, was unserem Jahrhundert heilig ist, hielt aber auch der Autor selber nicht für bühnenfähig.

So blieb denn "Fortschritt", ebenfalls 1927, kurz nach "Die Kirche" entstanden, zu Lebzeiten nicht nur unaufgeführt, sondern auch unveröffentlicht. Erst im Nachlaß des 1961 verstorbenen Autors wurde das Stück aufgefunden und 1978 ediert. Nun ist es in der Werkstattbühne in Bonn auf den Spielplan gelangt. "Fortschritt" skizziert eine Personenkonstellation und deutet deren Entwicklungsmöglichkeiten an, ohne sie auszuführen.

Marie, eine junge Frau, "nicht schön, aber liebenswürdig", ihr Ehemann Gaston, Versicherungsangestellter, "kraftlos", "leicht erregbar", mit Abitur, also ein Intellektueller, dazu Maries Mutter, Madame Punais, verwitwete Antiquitätenhändlerin, die es darauf abgesehen zu haben scheint, ihre Tochter mit Herrn Berlureau, dem klavierspielenden Nachbarn, Junggesellen und "Angestellten im Ministerium" zusammenzubringen – und schließlich noch Madame Doumergue, die steinalte Klavierlehrerin, die den drei Versuchungen ihres Lebens widerstanden hat, um Gott als Jungfrau gegenüberzutreten. Das könnte fast Stoff fürs Boulevardtheater sein, wenigstens für eine Karikatur desselben.

So weit kommt es jedoch nicht: In leichte Dialoge und Anflüge von Lachsalvenhumor mischt sich irritierendes Possenspiel mit medizinischen und sexuellen Anspielungen. Die schablonenhaften Charaktere sind nach dem ersten Bild enthüllt, ohne daß die Motive des Denkens und "Handelns" darüber verständlich würden. Konsequenterweise wandelt sich das zweite Bild zum Traum, aus dem man entnehmen könnte, daß Marie und ihr Nachbar rein und unschuldig zueinander gefunden hätten. Das dritte Bild legt in einem Bordell das frei, was hinter den Dingen liegt.

Hier ist das Stück fern aller Metaphorik und damit seinem Autor am nächsten. Die Panik der "Madame", als sich nur Voyeure als Kundschaft einstellen, die Bemühungen, mit Hilfe von Gaston oder Herrn Berlureau deren Schaulust zufriedenzustellen: Hier wird das Freudenhaus zu jenem Irrenhaus, in dem sich für Celine menschliche Existenz abspielt. Das Schlußbild läßt die Klavierlehrerin am Ziel ihrer Wünsche ankommen und verhöhnt den Weltenplan als einen göttlichen.

Der unfertige Charakter des Stückes ist eine Einladung, sich dessen so frei wie nötig anzunehmen. Die Inszenierung von Rüdiger Burbach schleift "Fortschritt" in respektvoller Nähe zum Text zurecht, ohne daß sie selber in Fragmente zerfällt. Dies geschieht zum einen durch Abstriche am zweiten und vierten Bild, für die Celine sogar Gesang- und Ballettszenen vorgesehen hatte, zum anderen durch die Zusammenführung der Madame Punais und der Madame des Bordells sowie ihrer Dienstmädchen zu jeweils einer Rolle. Dieser Brückenschlag ist vom Autor vielleicht nicht intendiert, aber keineswegs abwegig.

Problematisch ist hingegen der Kunstgriff, Marie und ihren Nachbarn im Bordell maskiert und daher voreinander unerkannt zueinander finden zu lassen. Das ist zwar hübsch zynisch, suggeriert aber andererseits, irgendetwas wäre für Menschen überhaupt erreichbar. So viel Hoffnung ist bei Celine aber nicht. "So ist halt das Leben, nichts weiter als essen, trinken, schlafen und dann das Risiko: krank zu werden oder sein ganzes Geld zu verlieren und dann wieder essen, rennen, trinken und schlafen und das war es dann": Diese Perspektive Celines kann man sich in der Tat bereits durch "Fortschritt" erschließen, aber sie ist – zumal im zeitlichen Kontext – keineswegs originell. Erst ihr Zusammengehen mit der eigentümlichen Einstellung des Autors zur Politik läßt sie zu jenem unverwechselbaren Affront werden, den sie wohl noch immer darstellt.

Von all den rabiaten Ressentiments, von denen das Gesamtwerk vollgesogen ist, klingt nur eines, das gegen die Freimauerei, in "Fortschritt" ironisch an – und ist dann in der Inszenierung auch noch unter den Tisch gefallen. So ist es gewiß möglich, einem deutschen Publikum jenen Celine zu bieten, den es gerade noch zu ertragen gewillt ist. Kennenlernen kann man ihn durch diese Verharmlosung aber nicht.


 
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