© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/99 29. Januar 1999


Europa: Jürgen Trumpf, Generalsekretär des EU-Rates, über Demokratiedefizite
"Die Verschiedenheit erhalten"
Karl-Peter Gerigk

Herr Trumpf, stellt der Rat der EU nicht eine Überregierung in Europa dar – gerade in der Zusammensetzung der Regierungschefs – die über die Köpfe der nationalen Parlamente und des Europaparlamentes hinweg Politik betreibt?

Trumpf: Gerade die Regierungschefs sind aus ihrer Sicht unmittelbar demokratisch legitimiert. Entweder sind sie direkt gewählt, wie der französische Präsident, oder sie sind mit ausreichenden Machtbefugnissen durch ihre nationalen Parlamente ausgestattet. Sie bewegen sich hier natürlich nur im Rahmen dessen, was durch die Verträge bestimmt ist. Sie, also die Regierungschefs, sind sich der Legitimation ihrer Handlungen sicher.

Jetzt kann man sich leicht vorstellen, daß nach einer Erweiterung 20 oder 30 Mitglieder noch größere Schwierigkeiten haben werden, sich zu einigen, als die 15 heute. Der Rat muß also reformiert werden. Was ist hier vorgesehen?

Trumpf: Es gibt viele Dinge, die verändert werden müssen. Hierbei müssen auch Vertragsvorschriften geändert werden. Hierzu zählt insbesondere die Frage der Stimmengewichtung. Aber der Großteil dessen, was verändert werden muß, liegt unterhalb der Vetragsschwelle. Die Verfahren ener Diplomatenkonferenz sind nicht mehr angebracht. Der Rat muß sich mehr an parlamentarische Vorgehensweisen, wie feste Sprechzeiten, Gruppenvorbereitung oder größere Disziplin, halten, um arbeitsfähig zu bleiben.

Stichwort Arbeitsfähigkeit: Die im halbjährigen Turnus wechselnde Ratspräsidentschaft erschwert sicherlich auch ein kontinuierliches Arbeiten. Wäre eine Änderung hier nicht auch angebracht?

Trumpf: Diese Frage wird schon seit Bestehen der Union diskutiert, und immer wenn ein neuer Mitgliedstaat hinzukommt, gibt es neue Vorschläge. Am Element der rotierenden Präsidentschaft hängen jedoch alle Mitgliedstaaten. Sie wollen dies nicht ändern – und die Zeitspanne ist auch schwerlich zu ändern. Weniger als sechs Monate ermöglichen keine effektive Arbeit. Eine Verlängerung würde bedeuten, daß ein Mitgliedstaat nur selten an der Reihe wäre. Das ist nicht im Sinne der Beteiligten.

Könnte der Ratspräsident nicht einfach gewählt werden?

Trumpf: Dies ist theoretisch sicherlich möglich. Es gibt Ämter, die schon heute in dieser Form besetzt werden, wie zum Beispiel der Vorsitz im Wirtschafts- und Finanzausschuß. Dieser wählt seinen Vorsitzenden für zwei Jahre. Bei Beamtengruppen kann man dies durchaus machen. Aber bei politischen Funktionsträgern ist das schon schwieriger möglich. Für die politischen Führungsgremien ist eine Wahl wohl eher unrealistisch, da man auch hier auf nationale Empfindlichkeiten trifft.

Eine Wahl ist die Entscheidung der Mehrheit. Können Sie sich vorstellen, daß alle Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, um die Effizienz zu erhöhen?

Trumpf: Man muß bei den einzelnen Entscheidungen sicherlich einen Unterscheid machen. Fragen, die Verfassungsrang haben, müssen sicherlich einstimmig getroffen werden, und sie müssen auch durch die nationalen Parlamente abgesegnet werden. Wenn ein neuer Mitgliedstaat hinzukommt oder der Vertrag geändert werden soll, kann man dies nicht mit Mehrheit beschließen. Unterhalb dieser Schwelle gibt es allerdings viele Fragen, die mit Mehrheit entschieden werden können. So wird heute zum Beispiel die Ernennung der Kommissare, des Präsidenten der Kommission und der Richter einstimmig vollzogen. Mittelfristig, bei einer Gemeinschaft von 30, könnte ich mir allerdings vorstellen, daß auch diese Entscheidungen mit Mehrheit getroffen werden. Grundsätzlich sind Mehrheitsentscheidungen für alle Sachpolitikbereiche möglich. Doch muß klar sein, wie weit die Kompetenzen der Union reichen. Man kann nicht über einen Bereich, in dem die EU nur Teilkompetenzen hat, wie in der Sozialpolitik, ohne weiteres mit Mehrheit entscheiden. Das wäre eine schleichende Kompetenzerweiterung. Es gibt also Bereiche, in denen Mehrheitsentscheidungen selbst bei 30 Mitgliedern nicht möglich sein werden, weil dies zu sehr in die nationale Souveränität der Einzelstaaten eingreift.

"Die Gewaltenteilung in Deutschland ist nicht auf Europa übertragbar"

Die nationale Politik wird nicht nur durch den Rat, sondern auch durch seine Unterorganisation extrem beeinflußt. Welchen Stellenwert hat hier der Ausschuß der "Ständigen Vertreter"?

Trumpf: Die Rolle der Ständigen Vertreter ist, die Arbeit des Rates vorzubereiten. Auf der Grundlage seiner Arbeit faßt der Rat die Beschlüsse, die bis zum Bürger hinunter reichen. Diese Beschlüsse werden allerdings heute nicht mehr alleine vom Rat gefaßt. Sie werden durch das Parlament mitbestimmt. Die Ständigen Vertreter müssen hier eigentlich den Kompromiß zwischen den Regierungen finden. Sie haben dabei Gestaltungsmöglichkeiten in beide Richtungen. Sie vertreten die Meinung ihrer Regierung und bestimmen durch ihre Kenntnisse der Verhandlungslage in Brüssel auch die Meinungen der eigenen Regierung mit. Sie sind vor allem nicht nur Weisungsausführer. So ist es ihre die Rolle, daß sie gestaltend in die Entscheidungen mit einwirken.

Gilt dieser Gestaltungsraum auch für die K-Vier Gruppe, die dem Rat unterstellt ist?

Trumpf: Die K-Vier-Gruppe besteht ebenso aus hohen Beamten und hat wesentliche Aufgaben im Bereich der Justiz und des Inneren. Ganz maßgeblich wirkt sie an der Entscheidungsfindung im Rat in diesen Bereichen mit. Darüber hinaus kontrolliert sie die verschiedenen Arbeitsgruppen in den Bereichen Justiz und Inneres und achtet darauf, daß die Arbeit hier nicht gegeneinander läuft. Vorlagen laufen jedoch von der K-Vier-Gruppe über die Ständigen Vertreter zum Rat.

Wenn der Bürger vom Rat hört, denkt er vorwiegend an die Regierungchefs oder den Europarat, was ja etwas ganz anderes ist. Was tun Sie, um ihre Arbeit für die Menschen transparenter zu machen?

Trumpf: Der Rat ist kein Organ der EU, das hinter verschlossenen Türen tagt. Neue Vorschriften verpflichten sogar zu mehr Transparenz für den Bürger. Alle Dokumente können, sofern sie nicht als Verschlußsache gekennzeichet wurden, über das Internet gelesen werden. Auch betreiben wir eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, dies allerdings nicht in der Art einer Regierung, die auch politische Aufklärung betreibt, sondern wir versuchen, sachlich über unsere Arbeit zu informieren. Aber es bleibt noch viel zu tun.

Bezüglich der Politik scheinen Rat, Kommission und Parlament in einer Konkurrenz zu stehen. Können sie sich vorstellen, daß die Kommission sich zu einer Art Regierung entwickelt und das Parlament wirkliche Kontrollaufgaben übernimmt?

Trumpf: Die Verhältnisse auf europäischer Ebene sind grundsätzlich andere als auf nationaler Ebene. Die Gewaltenteilung in Deutschland ist nicht ohne weiteres auf Europa übertragbar. Alle Mitgliedstaaten sagen hier, daß sie die Verschiedenheit der Nationen erhalten wollen. Die "Vereinigten Staaten von Europa" im Sinne eines Schmelztiegels der Nationen sehe ich nicht. Das bedeutet auch, daß man in Brüssel nicht eine Regierung wie auf nationaler Ebene konstruieren kann. Die Kommission wird immer das bleiben, was sie jetzt ist. Ihr wesentliches Charakteristikum ist, daß sie ein Initiativorgan darstellt. Sie macht Vorschläge an die gesetzgebenden Körperschaften, den Rat und das Parlament. Sie entscheidet aber nicht darüber. Sie ist darüber hinaus auch zu klein, als Exekutivorgan alle Funktionen eines Regierungsapparates auszuüben.

Könnten die Zuweisung und Abgrenzung von Kompetenzen zwischen Rat, Kommission und Parlament nicht im Rahmen einer Verfassung für die EU geregelt werden?

Trumpf: Ich denke, daß eines schönen Tages so etwas kommen wird wie eine europäische Verfassung. Jedoch haben wir einige Mitgliedstaaten, die eine Verfassung gar nicht kennen, wie das Vereinigte Königreich. Schon die Verträge von Rom, Maastricht oder Amsterdam haben einen gewißen Verfassungscharakter. Aber es ist schwierig, Europa eine Verfassung zu geben, die wie diejenige eines Nationalstaates fungiert. Im Grunde würde das bedeuten, daß in Brüssel etwas errichtet wird, das alle Gewalt über die Nationalstaaten hat. Ein Regierungssystem auf europäischer Ebene, dem die nationalen Organe und Verfassungen absolut nachgeordnet wären, wird es aber auf absehbare Zeit nicht geben. Ich denke, es wird sich so wie bisher weiterentwickeln. Es wird auch Rechte im Range von Grundrechten geben, die auf europäischer Ebene Geltung haben. Ein Sprung jedoch, wie ihn das Europäische Parlament unter Spinelli versucht hat, mit einem geschriebenen europäischen Grundgesetz, würde auf absehbare Zeit wieder scheitern.

 

Dr. Jürgen Trumpf ist Generalsekretär des Rates der Europäischen Union (EU) in Brüssel. In Düsseldorf 1931 geboren, studierte er nach dem Abitur Klassische Philologie und Orientalistik in Insbruck, Köln und Athen. Seit 1958 arbeitet er für das Auswärtige Amt, zunächst als Attaché in Kairo, später als Konsul in Rotterdam. Zwischen 1979 und 1984 war er Gesandter der Ständigen Vertretung bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel. Danach bekleidete er das Amt eines Staatssekretärs im Auswärtigen Amt. Seit 1994 ist er Generalsekretär des Rates der Europäischen Union.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen