© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Kino: Die 80er Jahre und Verschwörungstheorien leben auf Zelluloid wieder auf
Hagbart Celine und die 23
Manuel Ochsenreiter

Am 1. Juni 1989 wird der 23jährige Karl Koch tot in einem Wald gefunden. Das einzige, was er der Nachwelt hinterläßt, sind sein verkohlter Leichnam und eine abenteuerliche Lebensgeschichte. Die Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Dem voraus geht ein Cocktail aus Computern, KGB, Kokain und wilden Verschwörungstheorien – die besten Zutaten für eine deftige Paranoia, an der Karl Koch schlußendlich zerbricht.

Der Sohn eines trinkenden Lokalredakteurs einer hannoveranischen Tageszeitung wird 1965 geboren, die Mutter stirbt bereits 1976 an Krebs. Karl engagiert sich vor allem auch als Protest gegen seinen Vater in der Anti-AKW-Bewegung und demonstriert in Brokdorf und Gorleben. Er begeistert sich für den Verschwörungsroman "Illuminatus" von Robert Anton Wilson und steigert sich in die Materie hinein. Dort fährt die Hauptfigur Hagbart Celine in einem goldenen U-Boot durch die Weltmeere und kämpft gegen die weltweite Verschwörung der "Illuminaten", deren magische Zahl die 23 ist.

Im Alter von 19 Jahren stirbt sein Vater an einem Hirntumor und Karl erbt. Der Computerfreak und Hacker gibt das ganze, von ihm als schmutzig empfundene Erbe für Computer, Parties und Drogen aus und beginnt, Daten an den sowjetischen Geheimdienst zu verkaufen. Karl leidet immer mehr an Horrorvisionen und Halluzinationen; als er schließlich halbnackt durch den Regen läuft, wird er 1987 zum Entzug in verschiedene Nervenkliniken eingewiesen. Er möchte einen Schlußstrich unter seine drogeninduzierte Hackerkarriere setzen und stellt sich dem Verfassungsschutz, es soll ihm dafür Straffreiheit zugesichert worden sein. Er bekommt einen Job als Fahrer, wird von Reportern belagert. Am 23. Mai 1989 bricht er zu seiner letzten Dienstfahrt auf, von der er nicht wieder zurückkehrt.

Aus diesem Stoff entstand der Kinofilm "23 – Nichts ist so wie es scheint", bei dem Hans-Christian Schmid ("Nach fünf im Urwald!") Regie führte. Es entstand ein authentischer, unterhaltsamer Film, der perfekt die Kluft zwischen Spielfilm und Dokumentation überwindet. So wurden in der sechs Millionen Mark teuren Produktion die achtziger Jahre mit Liebe zum Detail wieder zum Leben erweckt. Angefangen vom guten alten Hunderter mit dem Bild des Kosmographen Sebastian Münster, über die Transitstrecke nach Berlin mit fiesen DDR-Grenzern bis zum 73er Matra-Simca Bagheera, der damals vom ADAC die "Silberne Zitrone" verliehen bekam, als Auszeichnung für den schlechtesten Wagen des Jahres.

Die Geschichte ist allerdings mehr als nur ein nostalgischer Bestandteil des lange angekündigten 80er-Jahre-Revivals. Denn Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Glauben an weltweite, konspirative Machtzirkel längst nicht mehr nur bei radikalen Politikern zu finden, er wurde quasi zum Breitensport. Spätestens seit dem Mord an US-Präsident Kennedy 1963. Und nach dem tragischen Unfalltod von Prinzessin Diana kennt jedes Klatschkaffeekränzchen den Namen des britischen Geheimdienstes MI5 und mutmaßt "interessierte" Mächte hinter diesem "feigen Mordanschlag".

In einer Zeit, in der die kleinsten Abläufe immer komplizierter werden, in der der Normalbürger die Wege der Macht nicht mehr durchblicken kann, bieten mögliche Verschwörungen eine willkommene Erklärung. Schwieriges wird plötzlich einfach. Der Touch des Diabolischen verursacht ein wohliges Gruseln – wie bei einem guten Hitchcock-Film.

Auch für eigenes Versagen bietet eine handfeste Verschwörungstheorie eine schöne Entschuldigung. Wer sich einem übermächtigen, nicht faßbaren Gegner gegenüber sieht, braucht sich nicht für seine eigene Unfähigkeit zu entschuldigen.

Für Karl Koch sind die anfänglich noch klaren Grenzen zwischen Realität und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit verschwommen. Die Zahl 23, die magische Zahl der Illuminaten-Pyramide, verursacht bei ihm eine handfeste Paranoia. Mit der 23 ist das so eine Sache, man findet sie und ihre Quersumme 5 tatsächlich immer und überall. Selbst der Kinozuschauer ertappt sich nach dem Film, wie ihm die 23 an allen möglichen und unmöglichen Orten auffällt. Der schwedische Politiker Olof Palme wurde um 23.23 Uhr erschossen, am 23. Februar 1981 kam es in Spanien zum Putschversuch, die Diskothek "LaBelle" hatte die Hausnummer 23. Willy Brandt tritt am 23. März 1987 nach 23 Jahren vom Parteivorsitz der SPD zurück. Nicht zu vergessen die Pyramide mit Auge auf der amerikanischen Dollar-Note, der momentan noch wichtigsten Währung der Welt. Und selbst der renovierte Reichstag weist illuminatische Kennzeichen auf. Die für Besucher begehbaren Rampen bis in die Spitze der 23 Meter hohen Kuppel sind jeweils 230 Meter lang. Tja, und wen wundert es da noch, daß der leicht zwielichtige Chef des Reporters Jochen die Marke "Ernte 23" raucht? Alles nur Zufall?

Für Karl Koch nahm der Verfolgungswahn ein tragisches Ende. Er befand sich in einer Parallelwelt, beherrscht von dunklen, obskuren Mächten, er deutete alles, was passierte, nur noch im konspirativen Kontext. Sein übermäßiger Konsum von Kokain und Amphetaminen oder Pillen, auch heute erst recht als Leistungsdrogen verbreitet, tat sein Übriges zum völligen Verlust der realistischen Wahrnehmung. Er versuchte aus fahrenden Autos auszusteigen, weil er plötzlich die Bomber der Illuminaten zu hören dachte. Gleichzeitig war er in der Lage sich mit know-how in sämtliche Computersysteme einzuhacken und Daten abzuziehen und zu verkaufen. Sein abhanden gekommener Realitätssinn ließ ihn glauben, er arbeite für eine "gerechte Sache" – in Wirklichkeit verscherbelte er mit einem schmierigen Dealer US-Programme an den KGB. Für die war er der nützliche idealistische Idiot. Er identifizierte sich vollständig mit Hagbart Celine, dem anarchischen U-Boot Käpt’n und Kämpfer gegen die Verschwörer. Den Höhepunkt erreichte Karl, als er tatsächlich glaubte, am Atomunfall in Tschernobyl Schuld zu sein. Sein Leben zeigt, daß gut und gut gemeint oftmals gegenteilig sind. Für den Weltfrieden haben er und seine Hackerkollegen mit Sicherheit nichts geleistet.


 
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