© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Pankraz,
Gregor von Rezzori und der Mann mit dem Stein

Letzthin las Pankraz einen zeternden Traktat von Hannes Stein, "Moses" mit Titel, wonach "das Gesetz", nämlich die Gerechtigkeit, immer und zu jeder Zeit und stets mit unnachsichtlicher Strenge "erfüllt" werden müsse, fiat iustitia, pereat mundus. Pankraz war irgendwie abgestoßen. Denn der Gerechtigkeit, so erhaben sie ist, wohnt auch etwas Furchtbares und Grauenhaftes inne, das man wenigstens zur Kenntnis nehmen sollte.

Die Gerechtigkeit fordert, auf die Spitze getrieben, nichts weniger als den Tod. Der Preis unseres Lebens ist nun einmal der Tod, wir müssen unentwegt töten, um am Leben zu bleiben, und am Ende sind wir es selber, die vom Schicksal irgendwie getötet werden, damit das Leben als Generationsprozeß in der Waage bleibt, sich auf dem ihm notwendigen Bedingungsniveau erhalten kann.

Dies Furchtbare und Grauenhafte spiegelt sich bekanntlich auch im Gerichtsprozeß, im Prozeß gegen denjenigen, den wir nicht von ungefähr den "armen" Sünder nennen, auch wenn er noch so viel Unheil ausgestreut haben mag. Wie es mit diesem armen Sünder bestellt ist, schildert sehr eindrucksvoll jene alte Geschichte, die der verstorbene Gregor von Rezzori so gern erzählte.

Sie handelt von einem Manne, dem ein mächtiger Wesir das schrecklichste Unrecht antut, ihn jahrzehntelang im Kerker modern läßt, ihm Frau und Kinder umbringt, ihn um alle seine Habe bringt. Dann ist es eines Tages soweit, daß der Wesir gestürzt wird, und als er zum Richtplatz geführt wird, versammelt sich vor dem Gefängnistor das Volk, und ganz nach vorn geschoben haben sie den Mann, dem der Wesir so großes Unrecht getan hat. Sie haben ihm einen Stein in die Hand gedrückt und ihm gesagt, er solle ihn auf den Wesir schmeißen, sobald der erscheint.

Der Mann ist auch damit einverstanden und wartet also rachedurstig auf den Wesir. Und dann geht das Gefängnistor auf, der Wesir tritt heraus, in Ketten und von Henkersknechten flankiert, und der Mann will den Stein schmeißen, und das Volk ruft: " So schmeiß’ doch". Doch der Mann schmeißt nicht, sondern wirft den Stein mit einer resignierenden Geste weg. Und als sie ihn fragen: "Warum hast du denn nicht geschmissen?", da antwortet er: "Ach, ich habe gedacht, ein großmächtiger Wesir tritt heraus, ein Peiniger der Armen und Entrechteten – und was trat wirklich heraus? Ein armes Schwein!"

Jener Mann, findet Pankraz, hat wohl tatsächlich eine Ahnung von der moralischen Situation gehabt, in der wir uns befinden. Vor der Gerechtigkeit sind wir alle durch die Bank arme Schweine. Aber mit solcher Einsicht kommen wir natürlich in die Zwickmühle. Denn wir dürfen die Gerechtigkeit nicht in den Wind schreiben oder auch nur verachten bzw. mißachten, im Gegenteil, die Gerechtigkeit kommt stets zuerst, denn ohne sie ist ein würdiges Leben gar nicht möglich.

Aber andererseits: Wer nicht irgendwann alle fünfe gerade sein lassen kann, wer nicht verzeihen kann, der stiftet auch kein würdiges Leben. Die Verzeihung ist das Gran Salz, das wir in die Suppe der Gerechtigkeit streuen, um das Leben in der Gemeinschaft überhaupt bestehen zu können. Pure Gerechtigkeit und immer nur Gerechtigkeit würde die Erde buchstäblich zu einem unbewohnbaren Stern machen. Das Summum Bonum ist für uns Menschen auch im Moralischen nicht zu haben, ein gewisser Grad Asymmetrie muß einfach sein. Ganz kann die Waage nie ins Lot kommen.

Menschen, die nicht verzeihen können, sind furchtbar wie die Gerechtigkeit selbst. Nur ist es bei ihnen eine angemaßte Gerechtigkeit und deshalb eine Furchtbarkeit, der jeder Glanz der Notwendigkeit und der Erhabenheit fehlt, die den "Gerechten" im Gegenteil als zänkisch, eigensüchtig und geradezu unmenschlich erscheinen läßt.

Indem wir die Kraft der Verzeihung aufbringen, erspüren wir, daß der arme Sünder gewissermaßen stellvertretend auch in unserem eigenen Namen gesündigt hat. Darin besteht ja die Feinheit der christlichen Lehre: daß sie genau dies in den Mittelpunkt stellt. Jesus zieht als unser "Stellvertreter" alle unsere Sünden auf sich – und handelt dabei auch in der Stellvertreterschaft Gottes, der die Welt geschaffen hat und dabei das Übel in die Welt lassen mußte, damit sie sich überhaupt von ihm unterschiede und in die Wirklichkeit trete.

Da die Welt nun einmal da ist, müssen in ihr auch die Gerechtigkeit und das Gesetz regieren. Aber die Präsenz des "Sohnes", der die Sünden der Welt auf sich nimmt, sie also gleichsam wegnimmt, macht uns die Welt und das Gesetz und seine notwendige Strenge erträglich, erträglich in der Hoffnung, daß die Strenge angesichts unserer armen, in die Wirklichkeit geworfenen Seele doch nicht so unerbittlich gemeint ist, daß es Gott leid tut um unsere Verlorenheit und daß er selber darunter leidet.

Mit der "Übermoral" des Verzeihens läßt sich selbstverständlich moralisch nicht über die Runden kommen, man kann mit ihr nicht Gerechtigkeit herstellen, kann mit ihr keine stabile Gemeinschaft begründen. Wenn wir uns vollkommen der Übermoral der Bergpredigt ausliefern würden, würden wir letztlich zu unmoralischen Subjekten, würden der Bosheit und der Feigheit Tür und Tor öffnen.

Aber ein bloßes Herumreiten auf dem Gesetz, das "erfüllt" werden muß, und ginge die Welt darüber unter, führt ebenfalls in die Bosheit. Hier die jeweils richtige Balance zu finden, ist, fürchtet Pankraz, fast gar nicht rational abzuschätzen, muß einer intuitiven, direkt aus der Großzügigkeit, der "générosité", unseres Herzens entspringenden Entscheidung überlassen werden. Auch der erbarmungslos gerechte Hannes könnte ruhig einmal über die schwierige Beziehung zwischen Gesetz und Générosité nachdenken.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen