© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Lenin: Vor 75 Jahren starb der sowjetische Revolutionsführer
Er hinterließ eine Blutspur
Hans-Jörg von Jena

Noch immer liegt die Mumie im Mausoleum. Nach wie vor stehen die Besucher Schlange vor dem düsteren Klotz aus Marmor am Moskauer Roten Platz an, um einen Blick zu werfen auf Lenins Leichnam. Erkennbar ist das wächserne Gesicht, vom Leib unter der Decke scheint wenig mehr vorhanden. Gleichwohl wird er weiterhin konserviert.

Lenin hatte es anders gewünscht. Er wollte an der Seite seiner Mutter begraben sein und hat sich den Personenkult, der jahrzehntelang mit ihm betrieben wurde, nicht träumen lassen. Mit ihm: seinem Andenken nicht nur, seinen widersprüchlich auslegbaren Lehren, sondern seinen sterblichen Überresten. Von ihnen wendet sich der westliche Gast mit Grausen: kopfschüttelnd und mit leichtem Ekel. Grund zum Hochmut hat er nicht. Auch Katharina von Siena beispielsweise ist in einem Glassarg ausgestellt, und sie sieht nicht aus wie Schneewittchen.

Lenin starb schwer. Nur das Ende war leicht und schnell: am 21. Januar 1924 traf ihn in Gorki ein erneuter Schlaganfall, er verlor das Bewußtsein und war nach einer halben Stunde tot. Seine Frau, die Krupskaja, saß auf seinem Bett und streichelte seine Hand. Aber dies war nur die letzte Station eines langen Leidensweges. Die vorhergehenden anderthalb Jahre summieren sich zu einer Shakespeareschen Tragödie.

Der rastlose Mann siechte dahin, seit ihm im Mai und Dezember 1922, dann wieder im März 1923 Schlaganfälle getroffen hatten. Nach dem dritten war er rechtsseitig gelähmt, er konnte nicht mehr sprechen. Alle Bemühungen, ihm das Gehen, Schreiben, Sprechen wieder beizubringen, blieben so gut wie erfolglos. Aber Lenin war bei wachem Bewußtsein. Er konnte sich nicht mehr äußern, monatelang sah er dem eigenen Sterben und dem Niedergang seines Lebenswerkes hilflos zu. Anfang 1923 hatte er noch diktieren können, hatte das berühmte "Testament" für den kommenden Parteitag verfaßt, in dem er die Absetzung des machthungrigen Stalin als Generalsekretär forderte (das dieser dann zu unterdrücken wußte), sowie Artikel für die Prawda fertiggestellt. Nun blieb ihm nur noch die stumme Bilanz.

In den Wochen vor dem Ende las die Krupskaja ihm vor, eine Erzählung von Jack London. In "Love of Life" (deutsch "Liebe und Tod") versucht ein kranker, an Hunger sterbender Mann, aus einer Eiswüste den Hafen an einem großen Fluß zu erreichen. Seine Kräfte versagen, er stolpert ständig, und neben ihm stolpert ein Wolf – der auch am Hunger stirbt. Es entsteht ein Kampf zwischen ihnen, in dem der Mann siegt. "Halb tot, halb wahnsinnig erreicht er sein Ziel. Die Geschichte gefiel Iljitsch sehr gut", schreibt die Krupskaja. Er muß sich in ihr wiedererkannt haben, so wie er es sicherlich auch bei Hemingways "Der alte Mann und das Meer" getan hätte. Aber Lenin, trotz all seiner Willensstärke, erreichte keinen Hafen mehr.

Wer war der Wolf, wer der Schwertfisch Hemingways, die der große Revolutionär nicht zu besiegen vermochte? Es war nicht einfach die Unfertigkeit des Getanen, deren Gefühl jeden Täter gegen Ende seines Weges überkommen mag. Es war das System selbst, das er durch die Revolution in Rußland geschaffen hatte und dessen Niedergang nach dem Abebben des ersten Enthusiasmus er spürte und bekämpfte. Für die Brechtschen "Mühen der Ebenen" war es offenbar wenig geeignet. Gerade die letzten Artikel Lenins zeugen davon.

In Ausführungen unter dem unscheinbaren Titel "Über das Genossenschaftswesen" findet sich der Satz: "Wir müssen zugeben, daß sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert hat." Lenin wendet sich gegen die Parteibürokratie. Die Macht sei errungen, nun bedürfe es "friedlicher Kulturarbeit", und die könne nur, insbesondere auf dem Lande, von den in Genossenschaften organisierten Massen selbst geleistet werden. Sieh an! Ein schöner Traum wohl nur, aber kein demokratischer. Seine Verwirklichung hätte das Ende der Parteiherrschaft bedeuten müssen. Rosa Luxemburg, die von Lenin Verlästerte, ist da auf einmal nicht weit. Es bleibt eine spannende Frage, wohin Lenin, hätte er ein paar Jahre länger gelebt, Rußland gesteuert hätte. Allzu humane Hoffnungen freilich darf man sich nachträglich nicht machen.

Selbstzweifel hatten Lenin stets ferngelegen, auch die dramatischsten Kehrtwendungen und Anpassungen an die Realität hatte er stets als "historisch notwendig" oder "objektiv gesetzmäßig" gerechtfertigt: obwohl er die agitatorische Lüge nicht scheute, meist in naiv gläubiger Aufrichtigkeit. So hatte er, bis 1917 ein eifernder und machtloser Emigrant, die Welt bewegen können.

Als historisch Gescheiterter wollte Lenin nicht abtreten

Was bot Lenin, was bietet uns die Rückschau? Als Theoretiker und unermüdlicher politischer Schriftsteller hatte er zweimal in die Gedankenwelt der Linken mit praktischen Folgen eingegriffen. Das erste Mal 1902, als er auf einem "II. Parteitag" (der der erste war, denn den Gründungsparteitag in Rußland hatte die zarisische Geheimpolizei verhindert), abgehalten auf einem Londoner Speicher von etwa drei Dutzend Verschworenen, die Spaltung der neuen Partei in Kauf genommen hatte, um sein Konzept vom "Berufsrevolutionär" durchzusetzen. Das andere Mal während des Ersten Weltkrieges, als er schlaumeierisch die "Imperialismustheorie" erfand und damit Marx auf den Kopf stellte. Nicht länger sollte der Sozialismus mit der Selbstverständlichkeit eines Geburtsvorganges in den höchstentwickelten Ländern den Kapitalismus ablösen, vielmehr umgekehrt die imperialistische "Kette" um die Welt am schwächsten Glied durch gewaltsamen Umsturz gesprengt werden. Der Russe Lenin brachte damit Rußland als revolutionären Faktor in die vorderste Front.

Man kennt die abenteuerliche Geschichte, wie die Deutschen, denen 1917 das Wasser bis zum Hals stand, den ihnen so gut wie unbekannten Emigranten Lenin in der Züricher Spiegelgasse als Agenten anwarben, in einem plombierten Eisenbahnzug mit seinem politischen Clan ins nach der Februarrevolution desorganisierte Rußland transportierten und mit Geld versahen, um ihn und seine Bolschewiki an die Macht zu bringen. Als das gelungen war, unwahrscheinlicherweise, hielt Lenin sein Versprechen, Rußland aus der Phalanx der deutschen Kriegsgegner herauszubrechen. Er vertraute auf seinen Oktoberumsturz als "Initialzündung zur Weltrevolution", die in Kürze über Deutschland hinwegfegen werde, und behielt beinahe recht. Deutschland verlor den Krieg und geriet in die Strudel der Revolution, nur: die "Arbeiterverräter" Ebert und Noske verhinderten eine bolschewistische Machtergreifung.

Wie Lenin ganz allein, anfangs gegen den Protest fast der gesamten übrigen Parteiführung, die Hinnahme des demütigenden Friedens mit dem deutschen Kaiserreich (3. März 1918 in Brest-Litowski) durchsetzte, gehört zu seinen größten politischen Leistungen. Wie seine kleine Umstürzlerpartei die mit deutscher Hilfe gewonnene Macht behauptete und den Bürgerkrieg gewann, darin teilt er den Verdienst zumindest mit Trotzki. Daß die Weltrevolution entgegen seinen Erwartungen ausblieb, darauf hat er als Realist reagiert. Den Slogan vom "Sozialismus in einem Lande" brachte zwar erst das Scheusal Stalin auf, aber die Entscheidung hatte schon Lenin gefällt; keinen Augenblick dachte er daran, als historisch Gescheiterter vor der politischen Bühne abzutreten.

Die Partei blieb der Träger der Macht, auch gegen eine basisdemokratische Revolte wie den Kronstädter Aufstand. Es gehört zu Lenins finsteren Seiten, mit welch erbarmungsloser Brutalität er den Aufstand niederschlagen ließ. Als Überzeugungstäter ging er über Leichen. Das Dekret über den "revolutionären Terror", die Gründung einer Geheimpolizei als dessen Instrument (bereits 1918) hat Lenin zu verantworten. "In Rußland ist durchaus Platz für eine zweite Partei", bemerkte er einmal, "aber nur im Gefängnis". Den Weg zum Gulag hat, kein Zweifel, schon Lenin beschritten, ein dogmatischer Rechthaber, der vom Zaren bis zum Muschik Unzählige seiner Weltverbesserungsverranntheit opferte.

Was bleibt? Vor zehn Jahren fielen Lenins Denkmäler. Seitdem, darüber gibt es keinen Historikerstreit, ist Lenin abgewandert in die Geschichte. Trotzdem wird über ihn noch lange auch politisch gestritten werden. Zu viele Menschen wehren sich, bedrängt von Tagessorgen und den Mängeln des "kapitalistischen Systems", gegen die Erkenntnis, daß Lenins welthistorische Umwälzung für Rußland im Grunde unnötig war. "Kommunismus? Das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung", so Lenins einprägsame Formel. Aber Industrialisierung und Elektrifizierung waren im Zarenreich, auch wenn es im ersten Weltkrieg wankte, auf gutem Wege. Nicht der Sowjetmacht bedurfte das Land, sondern friedlicher Entwicklung. Statt dessen kam ein jahrzehntelanger, bewußt geschürter Bürgerkrieg, kam unendliches Leid, kamen fünfzig Millionen Tote.

Lenin, ein Mensch mit seinem Widerspruch. Angesichts der Blutspur, die er hinterließ, verbietet sich Sentimentalität. Sympathisches kann man trotzdem an ihm finden. Kinder waren ihm wie Matbeth versagt, aber seine Liebe zu Kindern gilt als echt. Seine phrasenlose Sachlichkeit haben auch erbitterte Gegner wie Ernst Reuter gerühmt. Er hütete sich, als hätte er Brecht gelesen, vor der "Verführung zur Güte"; er unterlasse es, Beethoven zu hören, gestand er einmal, weil man danach geneigt sei, den Menschen übers Haar zu streichen, statt sie zu treten und anzutreiben. Am meisten ergreift sein Ende, wo er mit Prospero hätte sagen können: "And my ending is despair". Als Mensch beschäftigt er die Phantasie, "objektiv" jedoch war Lenin ein Unmensch. Er selber hätte diese Kategorie für entscheidend gehalten.


 
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