© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Kolumne:
Defizite
von Heinrich Lummer

Es sah aus wie eine Krise und führte zu einer Machtprobe zwischen Kommission und Parlament. Es gab große Worte und einen Mißtrauensantrag. Aber die Erfinder des Antrages wurden schließlich kleinlaut und ersetzten ihr Mißtrauen durch neues Vertrauen. Schließlich war ja Frau Cresson eine der ihren, und welcher Sozialist läßt schon einen anderen Sozialisten im Stich. Schließlich hat man Solidarität gelernt. Es stellt sich allerdings wieder einmal die Frage nach den demokratischen Defiziten bei den Europäischen Institutionen. Dabei liegt es vor allem an einem moralischen Defizit, wenn es in der Kommission Korruption oder Mißwirtschaft gib. Auch wenn das Europäische Parlament mehr Kompetenzen bekäme, könnte man derartige Dinge nicht ausschalten. Man muß vielmehr die Verwaltungsstrukturen so gestalten, daß Kommissare keine Vetternwirtschaft betreiben können, und man muß einen soliden Kontrollmechanismus schaffen. Alles brauchte man nur dann nicht, wenn die Menschen ganz und gar moralisch handelten. Wenn das Parlament nun – erneut – bei einer solchen Machtprobe vor den Kommissaren den Schwanz eingezogen hat, dann liegt das also nicht an einem Defizit an Demokratie, sondern an einem Defizit an Mut. Daran gebricht es freilich immer dann, wenn man falsche Solidarität üben muß.

In der Soziologie kennt man den Begriff der overlap-ing membership. Der Abgeordnete gehört Gruppen an. Er ist einmal einer nationalen Gruppe zugehörig, und er ist einer Partei verpflichtet. Diese Zugehörigkeiten bestimmen zu einem großen Teil das Abstimmungsverhalten. Nicht von ungefähr hat Madame Cresson ihren Fall zu einer Schelte der deutschen Presse benutzt. Den Deutschen etwas anzuhängen, ist ein beliebtes und offenbar immer noch wirksames Spiel. Wenn es einen spanischen Kommissar zu retten gilt, kann es leicht geschehen, daß die spanischen Abgeordneten des Europaparlamentes keine Parteibindung mehr kennen. Sie kennen nur noch einen Spanier in Not.

Offenbar tut sich das Europäische Parlament schwer, etwas gegen die Exekutive zu unternehmen. Man kann nicht einmal ausschließen, daß es hier Tauschgeschäfte gegeben hat. Die normalen Parlamentsstrukturen in modernen Demokratien sind dadurch bestimmt, daß es eine Regierung und eine organisierte Opposition gibt. Die gibt es im Europaparlament nicht. Deshalb muß die Kontrolle bei den dafür vorgesehenen Institutionen– wie beim Rechnungshof – liegen, und die nationalen Parlamente sollten sich diesen Aufgaben stärker annehmen. Eine Sternstunde des Parlamentarismus haben wir jüngst in Straßburg nicht erlebt.


 
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