© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


CD: Klassik
Lyrischer Bariton
Alexander Abendroth

Heinrich Schlusnus (1888–1952), der wohl bedeutendste deutsche Liedersänger und lyrische Bariton seiner Epoche, ist auf CDs ungewöhnlich gut repräsentiert. In der Reihe "Lebendige Vergangenheit" der österreichischen Firma Preiser Records wurden die meisten wichtigen Schellackaufnahmen des im Schatten der Marksburg, im rheinischen Braubach, geborenen Baritons in mehreren Folgen wieder veröffentlicht.

Diese Edition ist jedoch keineswegs vollständig, denn insbesondere die ersten akustischen Aufnahmen, die der Jahrhundertsänger in den Jahren vor 1920 eingesungen hat, sind darin nicht enthalten. Bis dato waren diese überaus raren Tondokumente für das Publikum nicht greifbar.

Diese schmerzliche dokumentarische Lücke der Gesangshistorie ist nun durch eine neue CD des kleinen Labels UraCant geschlossen worden, welche die kompletten frühen Aufnahmen von Heinrich Schlusnus aus den Jahren von 1917 bis 1919 vereinigt (UraCant 982; Vertrieb: Musikvertrieb Gebhardt, Stuttgart); sie ist in jedem guten Plattenfachhandel erhältlich.

Diese Veröffentlichung verdient schon deshalb besondere Beachtung, weil sie Stimme, Gesangstechnik und Stil des Sängers vor seiner Umschulung durch den bedeutenden, 1886 in den USA geborenen und dort 1945 auch verstorbenen Gesangspädagogen Louis Bachner präsentiert, der von 1910 bis 1935 in Berlin als Gesangslehrer auch anderer namhafter Sänger wie Sigrid Onegin, Frida Leider, Ria Ginster, Karin Branzell oder Michael Bohnen gewirkt hat. Bachners bedeutendster Schüler war jedoch Heinrich Schlusnus.

Der Einfluß, den Bachner auf ihn ausgeübt hat, kann nicht hoch genug veranschlagt werden, wie die jetzt veröffentlichten Aufnahmen im Vergleich mit den später entstandenen belegen. Stimme und Technik des Baritons klingen auf diesen frühen Schellacks deutlich anders und keineswegs unbedingt vorteilhafter als auf seinen später, nach 1920, aufgenommenen Platten, wie auch der Gesangshistoriker Michael Seil, der an der Edition der CD maßgeblich beteiligt war, in seinem profunden Begleittext im Beiheft feststellt.

Schlusnus’ hier erstmals auf CD vorgestellte Interpretationen von Opern-Arien Verdis, Wagners, Lortzings, Marschners, Rossinis, Gounods, Leoncavallos und des französischen Komponisten Ambroise Thomas sowie – dokumentarisch besonders wertvoll – von sechs Klavierliedern von Richard Strauß, bei denen der Sänger im Dezember 1919 vom Komponisten selbst am Flügel begleitet wurde, stellen eine Baritonstimme vor, die durch das sogenannte "Decken" deutlich dunkler gefärbt ist, als der Hörer das von dem typischen, hell-tenoral getönten Schlusnus-Klang kennt.

Die Stimme ist hier in der Tiefe noch stärker ausgebaut und wird merklich druckvoller, das heißt auch weniger entspannt, geführt als hernach. Darunter litt hörbar die Reinheit der Vokale, die oftmals künstlich angedunkelt scheinen, während der Ausdruck manchmal emphatischer wirkt als in den späteren Aufnahmen.

Neben den bedeutenden Strauß-Interpretationen sind besonders die schön gesungenen Verzierungen in den Verdi- und Rossini-Arien bemerkenswert, die daran erinnern, daß Heinrich Schlusnus einer der wichtigsten Protagonisten der deutschen Verdi-Renaissance seiner Zeit war.


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