© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Berliner Republik: Kampf um ein deutschsprachiges Stück Euroland
Wo die Realität präsent ist
Baal Müller

Die Kuppel auf dem Reichstag, diese große gläserne Blase, wölbt sich schon mütterlich, um bald die unzähligen kleinen Sprechblasen in sich aufsteigen, ziemlich durchsichtig schillern und zerplatzen zu lassen. Der Bundestag zieht um in den Reichstag. Die Furcht, er könne auch zu einem solchen werden oder wenigstens zu dem, was westdeutsche Kleinmütigkeit dafür hält, treibt deren mediale Repräsentaten allerdings eher dazu, ihn bestenfalls zu einem Landtag machen zu wollen. Zu einem sehr unpolitischen freilich, denn der eine Teil des politischen Establishments möchte vor allem seine Dauermatineé zur Vorstellung von Mahnmalentwürfen darin abhalten, während der andere von hier aus das Unternehmen Bundesrepublik managen will. Beide Teile müssen sich jedoch mit der neuen Situation arrangieren, auch wenn es vor allem dem erstgenannten schwerfällt: Regierung und Parlament befinden sich künftig in Berlin.

Ob mit dem Umzug mittelfristig auch eine geistige und politische Veränderung korrespondiert, die je nach politischer Couleur als Ausbruch neuer Großmannssucht befürchtet oder endlicher Eintritt in die Normalität einer selbstbewußten Nation begrüßt wird, ist Gegenstand einer intensiven feuilletonistischen Diskussion. Die "Berliner Republik" setzt als derzeit aktuellste neokonservative Begriffsbildung die Reihe der "selbstbewußten Nation", der "89er" usw. fort und muß wie diese erst beweisen, nicht bloß eine mediale Leuchtrakete zu sein.

Mit den "89ern" teilt sie die Doppelnatur, einerseits auf realen gesellschaftlichen Entwicklungen (Generationswechsel bzw. Wiedervereinigung und Verlegung des Regierungssitzes) zu beruhen, andererseits jedoch ihre konzeptuelle Herkunft aus medienstrategischen Überlegungen nicht verleugnen zu können. Ihre geschickte Lancierung spricht jedoch nicht gegen den tatsächlichen Gehalt, der sie von der weitaus großzügigeren Prophetie eines nahenden Endes der Geschichte unterscheidet. Ein solches würde, wenn es denn käme, die Diskussionen um die Berliner Republik freilich gegenstandslos machen; der Umzug von Bonn nach Berlin wäre dann in der Tat nur eine reine Ortsveränderung, und Orte sind in der globalisierten Welt für manchen nur noch einen Mausklick voneinander entfernt.

Allein, wer so spricht, verwechselt reale Orte mit ihren Repräsentationen auf dem Bildschirm. Ähnlich ergeht es den Zeitgeistphilosophen, deren populäre Theorie einer posthistoire die mediale Verfügbarkeit zeitlich auseinanderliegender Daten zu ihrer synchronen Präsenz verabsolutiert. Wenn aber zwischen virtueller und tatsächlicher Realität bzw. zwischen dem Arrangement von Zeichen und dem Bezeichneten selbst ein Unterschied besteht, dann geht die Geschichte auch im Informationszeitalter noch weiter, wenngleich in veränderter institutioneller und organisatorischer Form.

Unter dieser Bedingung hat auch die Rede von einem historischen Wandel der Bonner zur Berliner Republik einen Sinn. Wie sich die kommende Berliner Republik freilich nach innen und außen gestalten mag, steht auf einem anderen Blatt. Entsprechend unterschiedlich sind die Äußerungen ihrer öffentlichen Protagonisten und erst recht ihrer Gegner. Johannes Gross, der die Diskussion mit seinem Buch "Begründung der Berliner Republik" (1992) maßgeblich angeregt hat, prophezeit epochale Veränderungen: "Die Bundeshauptstadt Berlin wird einen politischen Stil hervorbringen, der von Grund auf anders ist."

Die Provinzialität, die zwar nicht generell für die Politik der Bundesrepublik, wohl aber für das Erscheinungsbild der ehemaligen Hauptstadt und ihrer politischen Klasse charakteristisch gewesen sei, werde sich in die neue Hauptstadt nicht mehr hinüberretten lassen. Die Isolation der idyllischen Bonner Insel, ihre Abgeschiedenheit von den Menschen "draußen im Lande" (wie man bekanntlich zu sagen pflegt), das Pendeln der Abgeordneten zwischen Wahlkreis und Bonner Dienstwohnung, die Abwesenheit von Medien und Industrie weichen nach dem Umzug einer bislang unbekannten Präsenz der Realität. Diese wird nach Gross die politisch Verantwortlichen zu der Erkenntnis führen, "daß es ein nationales Interesse gibt, solange es eine Nation gibt, die mehr als ihre Selbstauflösung im Programm hat".

Dem wachsenden deutschen Gewicht in der Welt und der ungemein rasanten Entwicklung Berlins läuft allerdings, wie Gross ebenfalls betont, eine andere Tendenz entgegen: die europäische Einigung und der globale Kapitalmarkt führen zu einer fortschreitenden Erosion außen- und wirtschaftspolitischer Kompetenzen.

Innenpolitisch entspricht ihr der programmatische und personelle Niedergang der traditionellen Ordnungsgaranten, der Parteien, Kirchen und Gewerkschaften. Die Hoffnung, daß der gerade von diesen Großorganisationen und den mit ihnen eng verflochtenen Medien getragene "Wohlverhaltenskodex" der political correctness dadurch zurückgehen wird, glaubt Gross allerdings enttäuschen zu müssen: "Ein großes Gemeinwesen, das eine nationale Identität nur schwer definieren kann, dessen Zusammenhalt durch keinen Druck von außen begünstigt wird, das auch gesellschaftliche Antagonismen nicht mehr in die fraglose Überzeugung eines gemeinschaftlichen Schicksals einbinden kann, wird der Versuchung nachgeben, das elementar Kontroverse am öffentlichen Ausdruck zu hindern, wenn es schon nicht beseitigt werden kann."

Die schwindende Akzeptanz des Parteiensystems wäre demnach erst die Voraussetzung einer noch weiter um sich greifenden Diskurshoheit und Meinungsdiktatur, die das Vakuum einer nationalen Identität auszufüllen hätte.

Ulrich Schacht und Heimo Schwilk hingegen lassen diese Prognose in ihrem sehr streitbaren Buch "Für eine Berliner Republik" (1997) nur für eine "mittelfristige Wegstrecke" gelten. Statt dessen vertrauen sie darauf, daß die "Zuspitzung der Krise" diesen Prozeß beenden und eine "neoliberale Wende" zu mehr Eigenverantwortung einleiten werde, die mit einem stärkeren nationalen Selbstbewußtsein einhergehe.

In der Friedenspreisrede Martin Walsers sowie in der Zustimmung, die sie in der breiten Öffentlichkeit erfahren hat, kann vielleicht ein Indiz für die Richtigkeit dieser Diagnose gesehen werden. Auch die Tatsache, daß selbst die rot-grüne Regierung Schröders wenigstens in manchen Punkten (etwa dem Mahnmal-Entwurf und den gigantischen deutschen Beiträgen für die EU) von den Vorgaben der Meinungsoligarchen abweicht, weist in diese Richtung.

Allzu voreiliger Optimismus ist jedoch nicht angesagt: Während die einen die Berliner Republik ausrufen, diskutieren andere darüber, ob wir eigentlich im Euroland oder vielmehr in der Eurozone leben. "Wir sind alle Zonies", spöttelte die Süddeutsche Zeitung.

Es ist noch ein weiter Weg in die Berliner Republik.


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