© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Hochschulen: Die Zwangsmitgliedschaft aller Studenten in einer Körperschaft ist verfassungswidrig
Empfindlicher Eingriff in Grundrechte
Eike Erdel

Das Hochschulrahmengesetz erlaubt den Bundesländern, daß an den Hochschulen zur Wahrnehmung hochschulpolitischer, sozialer und kultureller Belange der Studenten sowie zur Pflege der überregionalen und internationalen Studentenbeziehungen Studentenschaften als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft gebildet werden. Alle Bundesländer außer Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen-Anhalt haben von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht. Mit der Zwangsmitgliedschaft greift der Gesetzgeber aber in das allgemeine Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und in die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG der einzelnen Mitglieder ein. Daher dürfen Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft nicht willkürlich gebildet werden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die erste Voraussetzung für die Errichtung eines legitimen öffentlich-rechtlichen Verbandes mit Zwangsmitgliedschaft, daß der Verband "legitime öffentliche Aufgaben" erfüllt. Damit sind Aufgaben gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht, die aber so geartet sind, daß sie weder im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden können, noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen muß. Wenn der Staat solche Aufgaben einer eigens für diesen Zweck gebildeten Körperschaft des öffentlichen Rechts überträgt, handelt er grundsätzlich im Rahmen des ihm hier zustehenden weiten gesetzgeberischen Ermessens. Werden diese Voraussetzungen hingegen nicht erfüllt, so wird durch die öffentlich-rechtliche Zwangsmitgliedschaft das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

Selbst wenn der Verband legitime öffentliche Aufgaben wahrnimmt, so rechtfertigt dies allein noch nicht seine Existenz. In der Statuierung als Zwangsverband liegt prinzipiell ein empfindlicher Eingriff in grundrechtliche Positionen der Zwangsmitglieder. Der Eingriff kann deshalb nur dann als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung angesehen werden, wenn er zur Erreichung des vom Gesetzgeber erstrebten Zieles geeignet, aber auch erforderlich ist und wenn das Maß der den einzelnen durch seine Pflichtzugehörigkeit betreffenden Belastung noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den ihm und der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Kann das Ziel auf eine andere, den einzelnen weniger belastende Weise erreicht werden, so verstößt der Eingriff gegen die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes und ist damit verfassungswidrig.

Gerichte widersprechen sich in ihren Argumenten

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Verfassungsmäßigkeit der verfaßten Studentenschaft noch nicht auseinandergesetzt. Dagegen ist das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13. Dezember 1979 davon ausgegangen, daß die Studentenschaften legitime öffentliche Aufgaben wahrnehmen und durch die gesetzliche Verpflichtung, Mitglied der verfaßten Studentenschaft zu werden, der grundrechtlich und rechtsstaatlich fundierte Anspruch der Studenten auf Freiheit von unverhältnismäßigen Belastungen nicht verletzt werde. Zur Begründung wird ausgeführt, daß die mit der Bildung der Studentenschaften verfolgten Ziele wirkungsvoller Wahrnehmung hochschulpolitischer Belange und wirtschaftlicher Selbsthilfe der Studenten, wirksamer Studentenförderung, politischer Bildung zur Förderung des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins sowie der Unterstützung kultureller, musischer und sportlicher Betätigung das gesteigerte Interesse der Studenten wie der Allgemeinheit verdienten und sich zur Selbstverwaltung anböten. Im öffentlichen Interesse liege der Zusammenschluß aller Studenten einer Hochschule schon deshalb, weil Universität und staatliche Organe in der verfaßten Studentenschaft über einen durch Gesetz und demokratische Verbandswillensbildung legitimierten Ansprechpartner verfügen, der das Gesamtinteresse der Studentenschaft repräsentiere.

Vergleicht man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Körperschaften mit den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der verfaßten Studentenschaft, so stellt man fest, daß die Argumente unvereinbar sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil die Verfassungsmäßigkeit der verfaßten Studentenschaft nur pauschal bejaht, ohne dies detailliert zu erörtern. Der Grund für diese unzureichende Prüfung ist, daß das Gericht sich in dieser Entscheidung nicht mit der Zulässigkeit der Zwangsmitgliedschaft in der Studentenschaft zu befassen hatte, sondern lediglich die Verfassungswidrigkeit des allgemeinpolitischen Mandats der Studentenschaft untersuchte. Mißt man den Aufgabenkatalog der verfaßten Studentenschaften an den Maßstäben des Bundesverfassungsgericht zur Zulässigkeit von Zwangskörperschaften, so wird sich schwerlich feststellen lassen, daß "legitime öffentliche Aufgaben" übertragen worden sind oder wahrgenommen werden.

Die Wahrnehmung hochschulpolitischer Belange kann nicht als legitime öffentliche Aufgabe anerkannt werden. Ob die Studenten gemeinsame Anliegen empfinden und es für angebracht halten, sich zu ihrer gemeinsamen Wahrnehmung zu einer Vereinigung zusammenzuschließen, muß vielmehr grundsätzlich ihnen selbst überlassen bleiben. Der Gesetzgeber dagegen darf ihnen das nur abnehmen, wenn er mit der Errichtung und Beibehaltung der Studentenschaften nicht nur die hochschulpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Studenten, sondern darüber hinaus auch übergreifende öffentliche Interessen fördert.

An einer körperschaftlichen, kollektivistischen Wahrnehmung der studentischen Interessen indessen besteht kein öffentliches Interesse von ausreichendem Gewicht. Denn die Studenten erfüllen mit ihrem Studium keine öffentliche Aufgabe. Darin unterscheiden sie sich von den Anwälten und Notaren, die durch die Bundesrechtsanwalts- und die Bundesnotarordnung zur Mitgliedschaft in den Anwalts- bzw. Notarkammern verpflichtet werden, weil ihre Einbeziehung in die staatliche Rechtspflege nach einer derartigen Organisation ihres Standes verlangt. Auch mit den ebenfalls zu berufsständischen Körperschaften zusammengefaßten Ärzten, Apothekern, Architekten, Wirtschaftsprüfern etc. lassen sich die Studenten nicht vergleichen. Denn die Kammern dieser Berufe üben mit ihren berufregelnden Maßnahmen neben der Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder zusätzlich auch hoheitliche Funktionen aus. Den Studentenschaften dagegen hat der Gesetzgeber aus naheliegenden Gründen hoheitliche Aufgaben nicht anvertraut.

Zwangsmitgliedschaft ist nicht gerechtfertigt

Selbst wenn die Vertretung der hochschulpolitischen Belange ihrer Mitglieder im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse durch die Studentenschaft als legitime öffentliche Aufgabe anzusehen sein sollte, so würde das an der Verfassungswidrigkeit nichts ändern. Denn die Belastungen, die die Pflichtmitgliedschaft bei der Studentenschaft mit sich bringt, stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Vorteilen, die sie den Studenten und der Allgemeinheit eintragen.

Die Zwangsmitgliedschaft ist auch nicht erforderlich. Sie war möglicherweise sinnvoll, solange die Studenten nur über das Studentenparlament und den AStA auf die Entscheidungen ihrer Universitäten Einfluß nehmen konnten. Seit die Studenten aber mit Sitz und Stimme sowohl an den Fakultätsgremien als auch an den zentralen Organen der Universität beteiligt sind, besteht für eine daneben amtierende Vertretung der Studenten in Form einer rechtlich und wirtschaftlich selbständigen Gliedkörperschaft kein Bedürfnis mehr. Daß auf die Studentenschaften ohne weiteres verzichtet werden kann, zeigen die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen-Anhalt. Wenn der Gesetzgeber es den Hochschullehrern, wissenschaftlichen Mitarbeitern und anderen Dienstkräften der Universitäten überläßt, sich aus eigener Initiative Vereinigungen zu gründen oder bereits vorhandenen Verbänden beizutreten, so ist nicht einzusehen, wieso er dies einzig und allein den Studenten mit der Errichtung der Studentenschaften abnimmt.

Auch die Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sozialen Belange der Studenten ist keine legitime öffentliche Aufgabe, die eine Zwangsmitgliedschaft rechtfertigt. In allen Bundesländern hat der Gesetzgeber diese Aufgabe in erster Linie den Studentenwerken übertragen. Es ist nicht ersichtlich, warum der Gesetzgeber praktisch den Hauptteil der genannten Aufgaben einer Organisation ohne Zwangsmitgliedschaft zugewiesen hat, während der verbleibende Teil der Aufgaben von einem Verband mit Zwangsmitgliedern wahrgenommen werden soll.

Ebenso rechtfertigt die politische Bildung zur Förderung des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins den Zusammenschluß mündiger Bürger in einer Zwangskörperschaft mit Beitragspflicht nicht. Denn damit greift der Gesetzgeber in den Prozeß der politischen Meinungsbildung ein, der der eigenen Initiative der Betroffenen überlassen bleiben und staatsfrei verlaufen muß. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem etwas anderen, im wesentlichen aber gleichgelagerten Zusammenhang ausführlich dargelegt.

Dabei ist zu beachten, daß eine völlig neutrale politische Bildung nicht durchgeführt werden kann. Schon in der Wahl der Themen und der Art der Darstellung liegt eine wertende politische Betätigung. Aber selbst wenn man in der Förderung der politischen Bildung, des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins und des Eintretens der Studierenden für Menschen- und Bürgerrechte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat legitime öffentliche Aufgaben sehen mag, so fehlt es an einem für Studenten spezifischen Interesse an der Verwirklichung dieser Aufgaben. Ließe sich mit dieser Begründung eine Zwangskörperschaft legitimieren, dann könnte der Gesetzgeber praktisch jede gesellschaftliche oder berufliche Gruppe in einem Zwangsverband zusammenschließen. Dafür ist aber im freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat kein Platz.

Die Unterstützung kultureller, musischer und sportlicher Interessen der Studenten ist ebenfalls nicht geeignet eine Zwangsmitgliedschaft zu legitimieren. Auch wenn die Unterstützung kultureller, musischer und sportlicher Betätigung zu den allgemeinen öffentlichen Aufgaben gehört und im allgemeinen öffentlichen Interesse liegen mag, so ist sie doch keine staatliche Aufgabe. Es ist Sache des Bürgers – und der Student nimmt zu Recht für sich in Anspruch, dem Kreis der mündigen Bürger zugerechnet zu werden –, ob und wie er sich kulturell, musisch oder sportlich betätigt. Es ist seine Sache zu entscheiden, ob er sich zu einer solchen Betätigung in eine Vereinsbindung begibt und dort verbleibt. Für einen staatlichen Zwang zu kultureller, musischer oder sportlicher Betätigung, mindestens zur Unterstützung durch Beitragszahlung ist im freiheitlichen Rechtsstaat kein Raum.

In der Pflege überregionaler und internationaler Studentenbeziehungen kann ebenfalls keine Aufgabe gesehen werden, zu deren Bewältigung ein Zwangsverband erforderlich wäre. Die Herstellung und Pflege von Kontakten zu Studenten an anderen Hochschulen im In- und Ausland kann ebenso wirksam über privatrechtlich organisierte Studentengruppen erfolgen. In der Praxis gibt es schon private Studentenvereinigungen, die Kontakte zu Studierenden an anderen Hochschulen im In- und Ausland pflegen. Häufig sind diese sinnvollerweise nach dem jeweiligen Fachbereich ausgerichtet. Auch die studentischen Korporationen pflegen intensive Kontakte zu Studenten an anderen Hochschulen im deutschsprachigem Raum. Die Studentenschaft ist für die Erfüllung dieser Aufgaben also nicht erforderlich.

Daß bei Wahlbeteiligungen von weniger als 30 Prozent bei Wahlen der Studentenparlamente die Studentenschaft nicht das Gesamtinteresse aller Studenten repräsentiert, ist eigentlich offensichtlich. Es ist aber auch nicht erkennbar, welches Interesse der Gesetzgeber an einem studentischen Ansprechpartner für jede einzelne Hochschule haben könnte.

Studenten betätigen sich allgemeinpolitisch

Daß die Studentenschaften sich nicht allgemeinpolitisch betätigen dürfen, hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil erkannt. Trotzdem besteht hierin die wesentliche Tätigkeit fast jeder Studentenschaft. Selbst wenn Studenten mit Klagen hiergegen vorgehen, ist ein effektiver Rechtsschutz nicht möglich. Ordnungsgelder werden aufgrund der enormen Haushaltsvolumen bedenkenlos in Kauf genommen und die allgemeinpolitische Betätigung fortgesetzt.

Damit steht fest, daß die Zwangsmitgliedschaft in der Studentenschaft in Verbindung mit den übertragenen Aufgaben den einzelnen Studenten in seinen Grundrechten aus Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG verletzen. Die Grundrechtsverletzung kann nur durch die Abschaffung der verfaßten Studentenschaft zugunsten einer freiwilligen Studentenschaft nach dem Vorbild Sachsen-Anhalts beseitigt werden. Selbstverständlich wäre auch eine ersatzlose Auflösung der Institution Studentenschaft nach dem Vorbild Baden-Württembergs oder Bayerns möglich, da eine universitäre studentische Repräsentation durch studentische Mitwirkung in den Fakultäts- und Universitätsgremien ausreichend gesichert ist.

 

Eike Erdel, 27, studiert Jura in Marburg und klagt vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die verfaßte Studentenschaft.


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