© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
Soldaten der Wehrmacht: Eine Neuerscheinung auf dem Buchmarkt plädiert für eine faire Neubewertung
Die Widersprüche der Vätergeneration
Gerd Schultze-Rhonhof

Was nach dem Ende des nationalsozialistischen Gesinnungsterrors niemand für möglich gehalten hätte, ist dennoch eingetroffen: die nächste Hexenjagd auf deutschem Boden. Mitte der 90er Jahre entdeckten diejenigen, die sich als Ver-treter einer besseren Moral empfinden, die anderen, die wegen angeblichen mo-ralischen Versagens auf den Scheiter-haufen gehörten: die Vätergeneration mit ihrer Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg.

Obwohl das Ausmaß der Verstrickungen der Wehrmacht in die Sünden des braunen Diktators Hitler längst veröffentlicht und der Fachwelt bekannt waren, wurden diese Kenntnisse als Enthüllungen neu etikettiert und einer offensichtlich unkundigen Öffentlichkeit als Akt notwendiger Vergangenheitsbewältigung präsentiert. Dieses Geschäft besorgten eine Wanderausstellung mit dem Namen "Verbrechen der Wehrmacht" und eine nicht enden wollende Flut von Fernsehsendungen über das Dritte Reich und die, die damals angeblich alle willig mitgeholfen haben.

Der längst aus dem wirtschaftlichen und öffentlichen Leben Deutschlands abgetretenen Kriegsgeneration fällt es immer schwerer, sich der Verdammung durch die eigene Kinder- und Enkelkindergeneration zu erwehren; zu nebelhaft sind die Geschichtskenntnisse der Nachgeborenen, zu schwarzweiß die Bilder, die von einer sehr komplexen und komplizierten Vergangenheit übermittelt werden, und zu stark auch die Absicht der Meinungsführer in unserem Land, die Geschichte in einer ganz bestimmten Weise zweckdienlich zu interpretieren.

Da ist die Tat von 13 schreibenden Zeitzeugen und Historikern, die eine Beschreibung und Bewertung der viel-schichtigen Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges vorlegen, nicht hoch genug einzuschätzen. Der frühere Staatssekretär Karl-Günther von Haase, der ehemalige Inspekteur des Heeres Generalleutnant a.D. Hans Poeppel, der Kriegsteilnehmer Wilhelm-Karl Prinz von Preußen und der frühere Finanz- und Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg haben eine Gruppe von Historikern und Fachleuten zusammengeführt, die die Facetten von Politik, Krieg, Völkerrecht, Psychologie und soldatischem Erleben im Zweiten Weltkrieg mit unbezweifelbarer Kompetenz beschrieben und gedeutet haben. Dabei ist ein umfassendes und vertiefendes Bild jener Zeit entstanden, das sowohl die mildernden als auch die verschärfenden Umstände herausarbeitet, die jedem Urteil der Nachwelt zugrunde liegen müßten.

Für jeden, der sein eigenes Urteil sucht, ist dieses Buch Fundgrube und Schatz zugleich. Das Buch "Die Soldaten der Wehrmacht" liest sich wie ein Kaleidoskop. Wie man es "dreht" oder in welcher Reihenfolge man die Kapitel auch verarbeitet, es entsteht immer ein umfassendes Gesamtbild. Die Beiträge sind in sich abgeschlossen. Sie umfassen die Teile einer komplexen Wirklichkeit, die so in ihrer Zusammengehörigkeit nur selten miteinander wahrgenommen werden.

Nach einem lesenswerten Geleitwort von Stoltenberg (JF 52-53/98) folgt als Einstieg ein Kapitel über die ethischen Grundlagen der Wehrmacht. Der Militärhistoriker Gustav-Adolf Caspar spannt einen weiten Bogen von den religiösen und ethischen Grundüberzeugungen über das Wehrrecht bis zu den historischen und staatspolitischen Vorstellungen, auf denen sich das damalige Weltbild des Offizierkorps aufbaute. Um so tragischer war es, so der Autor, daß diese festgefügt scheinende Soldatenethik dem Gedankengut und den Realitäten der damaligen "neuen Zeit" nicht standhielt. Da, wo die Wehrmacht sich der Ausbreitung von Unrecht zu widersetzen versuchte, brach Hitler den Widerstand mit den Mitteln seiner Macht- und Personalpolitik. Von den 54 Marschällen und Generalobersten der Wehrmacht enthob Hitler 39 während des Krieges ihres Amtes. So kam es trotz strenger Appelle, Vorschriften und Gesetze gegen Grausamkeit und nutzlose Zerstörung im Krieg zu Exzessen und zur Beteiligung an Judenermordungen.

Im folgenden Kapitel "Wehrmacht und Widerstand" zeichnet der Historiker Romedio Graf Thun-Hohenstein ein filigranes Bild der Verflechtung von NS-Staat und Wehrmacht in den Jahren 1933 bis 1945. Der Autor setzt die Widersprüche dieser Zeit eng nebeneinander. Er zeichnet die Tragödie der Wehrmacht in genauen aber kurzen Strichen nach: die Warnungen der Spitzengeneralität zu Kriegsbeginn, die Vorbereitungen zu Hitlers Absetzung 1938 und 1939, die unerwarteten Blitzsiege, das Offizierkorps zwischen Unwissenheit und Kenntnis von den Verbrechen hinter der Front, die Wende des Krieges, die drei Widerstandskreise um Beck, von Tresckow und von Witzleben, das Ringen der Front ums Überleben, die Attentatsversuche kleiner Gruppen junger Offiziere und zum Schluß der 20. Juli 1944 mit dem Versuch, Hitler zu töten und Recht und Ordnung im Reich wieder herzustellen. Thun-Hohenstein rückt das Bild gerade, das sich Menschen in Deutschland 50 Jahre nach Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg gerne machen; ein Bild von einer damals durchschaubaren Welt, von klaren Entscheidungsmöglichkeiten und einem Ausweg aus der deutschen Tragödie unter Hitler ohne furchtbare Folgen innerhalb des Reichs und an den Fronten.

In einem weiteren Beitrag stellt der Historiker Horst Rohde den Widerstand des Heeres gegen den berüchtigten Kommissarbefehl dar. Er füllt damit eine Lücke in der modernen deutschen Geschichtsschreibung, die die Rolle des Berichterstatters zu leicht mit der des Anklägers verwechselt. Der Autor erliegt dabei selbst nicht der Versuchung, in die Rolle eines Verteidigers der Wehrmacht zu schlüpfen.

Der Beitrag des ehemaligen Bundeswehrgenerals Joachim von Schwerin ergänzt die überwiegend wissenschaftlichen Kapitel des Buches durch einen Blick aus der Perspektive der damals ganz jungen Generation. Von Schwerin, Teilnehmer des Rußlandfeldzugs vom ersten bis zum letzten Tag, sieht subjektiv die Leistungen, Opfer und Leiden der Truppe, der er angehörte. Sein Credo ist es, in einer ideologisch unbeeinflußten Fronttruppe gekämpft und von keinen Verbrechen gewußt zu haben. Er spricht für viele, doch leider nicht für alle, wie schon die anschließende Arbeit des Oberst i.G. Klaus Hammel über die Truppen im rückwärtigen Heeresgebiet belegt.

Hammel hat eine umfassende Arbeit über die deutsche Besatzung in der Sowjetunion geschrieben, die weit über die bisher vorliegenden, begrenzten Darstellungen von Massenexekutionen und Judenermordungen in Rußland hinausgeht. Dieses Kapitel umfaßt den Gesamtkomplex von Besatzungspolitik, Militärverwaltung, Wirtschaftsführung, Zwangsarbeiteraushebung, Polizeieinsatz, Bevölkerungspolitik und militärischen Schutzaufgaben vor allem gegen Partisanen im rückwärtigen Heeresgebiet. Besonders wichtig sind dem Autor dabei die Auseinandersetzungen um Völkerrecht und Humanität. Er stellt die Versuche von Heeresteilen, die Regeln von Recht und Menschlichkeit entgegen Hitlers Weisungen einzuhalten, genauso dar, wie die Verstöße gegen beide, die heute den Ruf des Heeres beschmutzen. Der Beitrag des Oberst Hammel ist auch insofern bemerkenswert, als er damit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) zuvorkommt, das es 54 Jahre nach dem Krieg nicht fertiggebracht hat, den diesem Thema gewidmeten Band 5/II der Reihe "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" fertigzustellen.

Zwei Beiträge über Luft- und Seekrieg heben das Buch wohltuend von den sonst üblichen Schmalspurbetrachtungen ab, die allein den Krieg des Heeres beschreiben und ihm damit eine nicht angemessene Stellvertreterrolle für die gesamte Wehrmacht zuweisen. Der ehemalige Luftkriegsbearbeiter des MGFA, Horst Boog, vertritt die berechtigte Auffassung, daß jede historische Bewertung zwischen einer Schuld am Krieg und einer Schuld im Krieg zu unterscheiden habe. So ist sein Untersuchungsfeld allein das Befolgen der Regeln von Menschlichkeit und Völkerrecht im Krieg. Boog kommt zu der von britischen und amerikanischen Historikern weitgehend geteilten Meinung, daß sich die deutsche Luftwaffe in Absicht, Planung und Durchführung generell an die Regeln des Kriegsvölkergewohnheitsrechts hielt, während die britische Royal Air Force dies angesichts ihrer beschränkten Möglichkeiten bewußt nicht tat. So stand einem Luftkrieg gegen militärische und industrielle Ziele deutscherseits ein vorgeplanter und durchgeführter Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung britischerseits gegenüber.

Das Seekriegskapitel aus der Feder des Kapitäns zur See Helmut Schmökel ergänzt das Thema durch den dritten Wehrmachtsteil. Der Autor zeichnet zum einen das glaubwürdige Bild einer durch Ritterlichkeit geprägten Kriegsführung zwischen der deutschen, britischen und amerikanischen Marine. Zum anderen weist er nach, daß die im Laufe des Krieges dennoch härter gewordenen Gebräuche bei den Gefechten auf See auf die langsame aber stetige Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten der britischen und amerikanischen Marinen zu Lasten der völkerrechtlichen Regeln des Seekrieges zurückgingen. Die deutsche Kriegsmarine zog nach ihren Möglichkeiten jeweils nach.

Interessant ist das Bild, das Professor Franz W. Seidler von der Wehrmachtsjustiz entwirft. Die Wehrmachtsrichter waren allem Anschein zum Trotz weitgehend frei von NS-ideologischen Einflüssen, jedoch sehr stark dem Willen der militärischen Befehlshaber und der Zweckbestimmung der Streitkräfte unterworfen. So stand mit der Zeit immer mehr das rigide Erzwingen von Disziplin und Zusammenhalt der Truppe im Vordergrund der Rechtsprechung. Seidlers Arbeit ergänzt sich sehr gut mit dem nachfolgenden Kapitel des US-Historikers Alfred de Zayas.

De Zayas, in Deutschland durch sein einzigartiges Buch "Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle" bekanntgeworden, ist profunder Kenner der Aktenlage über Verbrechen durch die Wehrmacht und an der Wehrmacht und der deutschen Strafverfolgung solcher Verbrechen während des Krieges. Wer de Zayas’ Beitrag über die Nürnberger Prozesse liest, kann die Aussagen und Bilder der Wanderausstellung "Die Verbrechen der Wehrmacht" nur noch schwerlich für repräsentativ für die Wehrmacht halten.

Trotz einiger inhaltlicher Wiederholungen in den hier nicht erwähnten Kapiteln ist das vorliegende Buch besonders lesenswert. Es reflektiert die Wehrmacht in selbstkritischer und umfassender Weise, verschweigt weder die schlimmen Verfehlungen noch den Kampf um Frieden, Recht und Menschlichkeit. Das Buch enthüllt die sogenannte Wehrmachtsausstellung als das, was sie ist: ein Konglomerat von halben Wahrheiten.

 

Hans Poeppel (Hrsg.): Die Soldaten der Wehrmacht, Herbig Verlag, München 1998, 592 Seiten, geb., 39 DM


 
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