© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
In der Kinderkrippe: Hier sind die Kleinen den ganzen Tag von der "Ersatzmama" versorgt
Wechselwäsche für die Schlabbertomaten
Karl-Peter Gerigk

Der kleine Hannes sitzt auf seinem Stuhl im Spielzimmer. Er hat einige Klötzchen in der Hand, schaut unsicher um sich. Nervös steht er auf und läuft zur Tür. Er kennt sich nicht so gut aus in der neuen Umgebung. Denn es ist seiner erster Tag in der Kindertagesstätte Oberlin-Haus in Potsdam-Babelsberg.

Seine Mutter nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn zurück in die Ecke, in der die Spielsachen, kleine Autos, ein winziges Keyboard und überdimensionierte Legosteine liegen. "Ich bin froh, daß ich den Kleinen jetzt hierher bringen kann. Ich bin berufstätig und weiß zu schätzen, wie die Kinder hier umsorgt werden. So kann ich beruhigt arbeiten gehen", sagt Doren Wegener, die Mutter von Hannes, selbst Erzieherin.

Hannes ist anderthalb Jahre alt und in einer Gruppe mit sieben weiteren Kleinen von acht Monaten bis zwei Jahren. Um diese Kinder kümmert sich Elke Pekrul selbst. Sie ist die Leiterin der Kindertagesstätte in Potsdam-Babelsberg. "Wir wollen die Kinder vor allem liebevoll erziehen und rundum pflegen. Das tun wir teilweise mit den Eltern zusammen. Oft sind die Mütter, wenn sie Zeit haben, mit dabei und sorgen dafür, daß die Jungs und Mädchen sich hier wohlfühlen", sagt die gelernte Erzieherin. Und das Spiel ist Erziehung.

"Wir lassen der Kreativität der Kleinen freien Lauf"

Die Kinder lernen in der Gruppe zu spielen und mit sich selber auszukommen. Sie werden angeleitet, Spielzeuge richtig zu gebrauchen oder es wird mit Knetgummi und Farben gematscht, um der Kreativität freien Lauf zu lassen. Das Spiel mit den Sachen, die es in der Krippe gibt, soll auch das Denken und Sprechen wie das gesamte Verhalten der Kleinen fördern. "Sie lernen auch auf das Schreien der anderen und auf die Mimik und Gestik der Erzieherin zu reagieren. Bis zum zweiten Lebensjahr hat sich ein richtiges Rollenverhalten herausgebildet. Sie ahmen die Erwachsenen nach", beschreibt Elke Pekrul die Entwicklung ihrer Schützlinge.

Beim Rollenspiel wird das Verhalten der Erzieherin und das von Vater und Mutter als Autoritäten antizipiert. Auf diese Weise wird schon in den ersten drei Prägejahren des kindlichen Lebens wesentliches für sein späteres Verhalten in der Gruppe, also in der Schule bis hin zu Pubertät oder Erwachsenenleben, geübt und entwickelt. Wie sich eine Mutter zu ihrem Nachwuchs verhält, sehen die Kleinkinder von der Erzieherin und spielen das dann untereinander oder mit der Puppe.

"Ganz wichtig ist auch die Selbständigkeit. Wir lassen den Ideen und Impulsen, sofern sie nicht zu aggressiv sind, freien Lauf und versuchen nur etwas zu kanalisieren. So üben sie ständig sich alleine auszuziehen, wenn es über Mittag ins Bettchen geht", beschreibt die Erzieherin, was sie mit den Kleinen übt.

Die Kinder bleiben in der Regel bis zum dritten Lebensjahr in der Krippe. Dann müssen sie in den Kindergarten. Doch kann auch individuell entschieden werden, wann ein Kind in den Garten wechselt. Das hängt auch von den Wünschen der Eltern ab. Wenn ein Kind schon mir zwei Jahren zu den Großen soll, wird mit den Erziehern abgesprochen, ob es schon soweit ist. Aber da gibt es kaum Probleme. "Dennoch bleiben die meisten Kinder bis zum dritten Lebensjahr bei uns", so Elke Perkul. Sie ist seit 37 Jahren als Erzieherin tätig und seit 20 Jahren in der Kinderkrippe im Oberlin-Haus in Babelsberg. Sie hatte eine Ausbildung als Krippenerzieherin an einer medizinischen Fachschule. Das dauert drei Jahre. Voraussetzung hierfür ist die mittlere Reife. Der Abschluß ist staatlich anerkannt. Gelehrt wird an der Fachschule neben medizinischen Grundkenntnissen wie Anatomie auch Psychologie oder Pädagogik. Alle vier Erzieherinnen in der Krippe sind auf diese Weise qualifiziert. Sie kümmern sich um etwa dreißig Kinder. Der Geburtenrückgang seit der Wiedervereinigung hat sich hier noch nicht bemerkbar gemacht. Das Einzugsgebiet der Krippe ist groß, und es gibt jetzt schon mehr als genug Anmeldungen fürs neue Jahr.

Aber dieses Bild ist eine Ausnahme. Insgesamt gibt es in Berlin in den letzten Jahren einen Trend zu immer weniger Kindern. Das gilt auch für die neuen Bundesländer und für Gesamtdeutschland. Weniger Kinder aber heißt auch relativ zu viel Betreuer für den Nachwuchs. Deswegen wird in Potsdam, in Berlin-Prenzlauer Berg, in Berlin-Mitte wie auch anderswo in Deutschland über Stellenkürzungen nachgedacht, um Kosten zu sparen. "Die Kinder sind überversorgt", so eine Sprecherin des Bezirksamtes Mitte für Familie, Jugend und Soziales, die ungenannt bleiben will. In den letzten vier Jahren sei die Zahl der Kinder in Berlin, die einen Krippenplatz brauchen, um ein Drittel gesunken. Das liegt sicherlich an dem Geburtenrückgang, der für 1997 jedoch eine leichte Besserung aufwies. Allerdings ziehen auch immer mehr Familien mit Kindern aus der Stadt heraus in das Umland, wegen der angeblich besseren Lebensqualität für die Kinder im Umland. Doch eine Tatsache bleibt. Die Gesamtbevölkerung sinkt, und der Abbau der Kapazitäten in den Kindertagesstätten bedeutet eine gesellschaftliche Akzeptanz von weniger Kindern. Gezahlt wird ein Großteil der Kosten für einen Platz in der Kinderkrippe ohnehin von den Eltern selbst – auch wenn es hier Unterschiede gibt. Ein Arbeitsloser zahlt im Monat um die sechzig Mark für den Platz seines Kindes und die fachgerechte Betreuung und Pflege. Dazu kommt noch das Geld für das Essen. Das sind achtzig Mark. Ein Besserverdienender muß da schon um die fünfhundert Mark berappen.

Es sind weniger Kinder in der "Kita" geworden

In der ehemaligen DDR war die Versorgung hingegen weitgehend kostenfrei für die Familien. Es gab auch Betreuung über das Wochenende, wie Elke Prekul zu berichten weiß, weil sie sich schon damals, im realen Sozialismus, um den Nachwuchs des Arbeiter- und Bauernstaates gekümmert hat. Später wurden Wochenheime eingerichtet, in denen die Kinder freitags abgeholt und montags wieder gebracht wurden. Vor allen Dingen waren es kombinierte Einrichtungen. In diesen "Kitas" (Kindertagesstätten) waren zum Teil die Altersgruppen bis zur Einschulung versorgt.

Die Einrichtungen zur Kinderbetreuung heute sind in der Regel kleiner, wie die Kindertagesstätte in Babelsberg. Auch war die "Schlüsselzahl", also Erzieher pro Kind, in der Zeit, in der die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft zuständig für die Erziehung war, für die Kinder ungünstiger. Damals war es ein Erzieher auf zehn Kinder. Heute sind es sieben Kinder pro Erzieher. "Das merkt man schon ganz genau, wenn mehr Kinder zusammen sind", sagt Elke, die der Zeit früher zumindest in dieser Hinsicht nicht nachtrauert. "Aber wir sind immer noch so lieb mit unseren Kindern, wie wir es zu Zeiten der DDR waren", meint sie weiter. Und das ist glaubwürdig, denn das Team in der Kinderkrippe in der Oberlinstrasse, die heute in der Trägerschaft der evangelischen Kirche ist, gibt es in der Zusammensetzung schon seit 1978. Da hat Elke Prekul die "Kita" übernommen. Die heute beschäftigten Erzieherinnen, es sind fünf an der Zahl, waren schon vor zwanzig Jahren eine Mannschaft. Aber sie waren zu siebt. Von der Atmosphäre für die Kinder hat sich nicht viel zum Nachteil verändert. Aber es gibt heute viele Kinder, deren Eltern arbeitslos sind. "Da merken wir heute schon, daß sich etwas geändert hat. Nicht zuletzt an der Summe des Platzgeldes. Aber wir arbeiten mit den Eltern bestens zusammen", so Frau Prekul. Sie kommen oft zu den Erzieherinnen und besprechen mit ihnen, wo die Kinder noch Schwierigkeiten haben. "Die kleine Anne zum Beispiel bewegt sich noch nicht genug. Da machen wir dann Übungen, daß sie ihren Körper besser und flinker koordinieren kann. Es werden aber auch schon recht früh allerhand von Geschicklichkeitsübungen gemacht, die dem gleichen Ziel dienen", berichtet die Leiterin der Tageskrippe.

Die gesamte Arbeit der Erzieherinnen läuft nach einem Konzept ab, das zum Teil mit den Eltern abgesprochen wird. Hier ist zum Beispiel Darstellung und Bewegung mit den Kindern vorgesehen. Eine Psychotherapeutin plant und berät das Team in der Krippe in Babelsberg. Ganz wichtig ist die Musikerziehung. Es wird viel mit den Kinder gesungen. Auch beim Wickeln sei es besser, dem Kindchen ein Lied vorzusingen oder zu summen, als nur zu sprechen, weil das gesamte Gehör und die Reaktion auf die Mutter oder den Vater sich dann emotional günstiger entwickele. "Das Kind fühlt sich wohler", sagt die Krippenmutter.

Für jeden Monat wird eine Arbeitsvorlage erstellt, damit auch Vater und Mutter wissen, was die Lieben so den langen Tag so machen. Dieser Plan ist systematisch und auf die Bedürfnisse und Anlagen der Kinder eingerichtet. Der Tag ist genau geplant und durchstrukturiert. Die Kinder kommen morgens zwischen sieben und acht in die Stätte und erhalten das erste Essen, wenn sie noch nicht genug zu Hause gefrühstückt haben. Aber mitzubringen brauchen sie nichts. Alles ist da – auch Wechselwäsche für kleine Schlabbertomaten.

Nach dem Frühstück wird erstmal miteinander gespielt. Häufig gehen die Betreuerinnen mit den Kleinen auch hinaus in den Park, damit sie sich bewegen, Vögel und Bäume kennenlernen und auch müde werden. Um elf Uhr wird dann zu Mittag gegessen. Es gibt oft die Lieblingsspeise, Wackelpudding ist nicht selten. Aber es wird auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung geachtet, ist die Leiterin des Hortes doch nicht zuletzt auch in Ernährungswissenschaft ausgebildet.

Nachmittags gibt es Kakao und Leckereien

Nach dem Mittagessen werden die Kinder gewaschen, gewickelt und ins Bett gelegt. Dann schlafen sie bis etwa dreizehn Uhr. Nach dem Schlafen die gleiche Prozedur: Säubern und wickeln. Dann gibt’s "Vesper" – Kakao und Milch mit Leckereien – aber nicht zu süß. Danach ist wieder Spielzeit angesagt. Aber jede Gruppe für sich, das heißt, die ganz Kleinen spielen mit Bauklötzchen und Steckspielen, bei denen sie sich Ketten machen können, die etwas Größeren, um die zwei Jahre, beschäftigen sich mit Puppenhäusern und Knete. Ältere malen Bilder, mit Fingerfarben oder Kreide an der Tafel. Auch mit der Schere darf schon mal geschnitten werden. So lernen die Kinder auch für das Basteln mit der richtigen Mama zu Hause.

"Die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus ist uns ohnehin ganz wichtig. Jedes Vierteljahr kommen Papa und Mama zu gemeinsamen Gruppen- und Spieltagen ins Haus. Es werden natürlich hierbei auch grundsätzliche Gespräche geführt. Aber dies ist besser als bei offiziellen Elternabenden, wo so mancher mit seiner Meinung hinter dem Berg hält", meint Frau Prekul. Und bei diesen Gesprächen sind die Gruppenerzieherinnen mit ihren Eltern und Kleinen dann unter sich. Es gibt drei Elternvertreter für die Krippe. Sie sind verantwortlich für alles, was von Elternseite an die Krippe herangetragen wird. Auch die Organisation von Festen oder Fahrten wird mit den Eltern zusammen gemacht.

"Stark ist die Unterstützung von Elternseite. Durch finanzielle Zuwendungen können wir viele gute Spielsachen kaufen und uns insgesamt besser ausstatten", ist Elke Prekul begeistert. Stellt sich die Frage, ob gutes Spielzeug nicht auch schon früh technisches Spielzeug sein sollte. Einen Computer, wie in Japans Kindergärten, gibt hier jedenfalls noch nicht. "Doch sollen die Kinder hier erzogen und nicht für den Konkurrenzkampf in einer Leistungsgesellschaft trainiert werden", beschreibt die Mama von der Tageskrippe ihre Aufgabe. Liebe scheint bei der Erziehung wichtiger zu sein.


 
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