© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
Volksentscheide: Chance der Konservativen
Macht und Ohnmacht
Philip Plickert

"Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!" – so war es schon im Kaiserreich und so soll es nach dem Willen der Herrschenden auch bleiben: der Bürger achte brav die Gesetze, zahle pünktlich seine Steuern, mache alle paar Jahre sein Kreuzchen, aber ansonsten, bitteschön, halte er den Mund!

Selten trat die Arroganz der Mächtigen klarer zu Tage als bei der Einführung des Euro, einem "Akt des aufgeklärten Despotismus" laut Michael Stürmer, dem ehemaligen Kanzlerberater. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen wollte die D-Mark nicht aufgeben, doch das Volk wurde übergangen. "Laßt die Hunde doch bellen", lachte die Regierung, "die Karawane zieht weiter." Und wer glaubte, daß der freche Vergleich des Volkssouveräns mit einer Meute kläffender Köter einen Aufschrei der Geschmähten entfesseln würde, der irrte. Die Deutschen lassen sich offenbar alles gefallen. So sind die Dreistigkeit der Führung und die Duldsamkeit des Volkes untrennbar miteinander verbunden.

Beinahe kampflos trennten sich die Deutschen von der D-Mark, dem Symbol ihres wirtschaftlichen Erfolges. Etwas tapferer wehrten sie sich gegen die verfehlte Rechtschreibreform. Das Volk, dieses störrische, undankbare Biest will unser Geschenk einer neuen Rechtschreibung nicht annehmen? So dachten die Kultusminister und verkündeten, der Zug sei doch schon längst abgefahren. Nur in Schleswig-Holstein erhoben sich die Bürger bisher gegen die staatliche Bevormundung und wiesen die selbstherrlichen Politiker in ihre Schranken.

"Das Volk volkt", sagen die Linken und haben damit nicht ganz unrecht. Gutmenschen fällt die Entscheidung nicht schwer zwischen einer Demo oder einem Familienausflug, und ein reges Medieninteresse ist der lauten Minderheit von Berufsdemonstranten gewiß. Konservative dagegen scheuen oft die Peinlichkeit eines solchen politischen Exhibitionismus. Sie verharren in preußisch geprägter Autoritätsgläubigkeit oder sind zu lethargisch und zurückhaltend für lautstarken Protest. Angewidert von den Verhältnissen basteln sie an ihrer kleinen heilen Welt. Gewiß ersetzt hektischer Aktionismus keine solide Strategie. Doch wer resigniert und die realen Mißstände aus seinem Bewußtsein verdrängt, der belügt sich selbst und überläßt das Feld allein dem Gegner. Wacht auf, möchte man den passiven Bürgern zurufen, meldet Euch zu Wort, sucht die Öffentlichkeit!

Lange genug waren die Aussichten leider trübe: Politik und Medien festigten das Gefühl der Ohnmacht, ein Mißerfolg jagte den nächsten – da wurden viele mürbe. Aber am Horizont schimmert ein Silberstreif: die neue Regierung, vor allem die Grünen, scheint zu erwägen, Volksentscheide gesetzlich zu verankern. Noch gibt es keine Möglichkeit, zu Fragen von nationaler Bedeutung einen Volksentscheid durchzuführen. Wenn aber die Volksvertreter das Volk in entscheidenden Punkten nicht mehr vertreten, wenn die repräsentative Demokratie immer mehr zur Parteienoligarchie verkommt, dann wird die Einführung von Elementen der direkten Demokratie eigentlich zwingend, zumal ja das Grundgesetz in Artikel 20 von Wahlen und Abstimmungen spricht.

In den Kommunen hat man schon Erfahrungen mit Bürgerentscheiden sammeln können. Dabei wurden alte Vorurteile widerlegt, denn nur in wenigen Fällen stimmten die Bürger aus opportunistischen Gründen nach dem Sankt-Florians-Prinzip gegen wichtige Projekte. In der Regel handelten die Bürger nicht kurzsichtiger als die Experten, waren ganz im Gegenteil ernsthaft bemüht, die beste Lösung für ihr Dorf, ihre Stadt zu finden.

"Verantwortung" ist auch so ein Modewort unserer Politiker. Geht irgend etwas schief, gibt es einen Skandal, dann übernimmt ein Minister die Verantwortung, tritt also mit einer satten Pension und Übergangsgeld im Rucksack von der politischen Bühne ab. Hat das Volk denn kein Verantwortungsgefühl? Sollte man ihm darum nicht Gesetze zur Entscheidung vorlegen, welche die Weichen für die Zukunft Deutschlands stellen? Wenn man dem Volk die Fähigkeit abspricht, sich gewissenhaft zu informieren, abzuwägen und schließlich zu entscheiden, dann erklärt man es für unmündig und dumm, dann muß man den Sinn von Wahlen in einer Demokratie allgemein in Frage stellen.

Die Masse der Deutschen vor allem in den niederen Bildungsschichten hat sich weitgehend als immun erwiesen gegenüber der 68er-Ideologie; daher sagt die Sitzverteilung im Bundestag nur wenig aus über die wahren Mehrheiten im Land. In Volksentscheiden steckt ein enormes Potential gerade für die konservativen Kräfte, denn sie mobilisieren die schweigende Mehrheit.

Der linken Übermacht im Parlament könnte die bürgerliche Rechte endlich kraftvoll begegnen, nicht bloß mit dem Pappknüppel der Drohung, sondern mit dem Schwert des Volksentscheids. Parieren ließe sich damit auch die jüngste Attacke auf die Souveränität und Identität Deutschlands durch die geplante Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts. Also, nicht Ruhe, sondern Druck von unten ist das Gebot der Stunde, auf daß es in Zukunft mit Fug und Recht heißt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen