© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Rudi Dutschke: Er war erfüllt von einer faustischen Sehnsucht nach Leben
Aufbäumen der Innerlichkeit
Moritz Schwarz

Rudi Dutschke war unzweifelhaft eine der widersprüchlichsten Figuren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Als Ringkämpfer extrem sportlich, verweigerte er den Dienst an der Waffe. Ein biederer Provinz-Junge aus der "Zone", der den Westen Deutschlands aufmischte. Ein stürmender Revolutionär, der zugleich auch die bürgerlichen Tugenden ehrte. Ein Agitator, der auf zeitgeschichtlichen Fotos wie ein reißender Wolf wirkt und dennoch als friedfertig in Erinnerung geblieben ist. Dieser Mann wurde zum Symbol einer Jugend.

Doch Symbol zu sein bedeutet immer, einseitig und von außen aufgeladen zu werden. Dutschke aber beeindruckte als außergewöhnlicher Mensch, nicht als Chiffre. Ob nun Marxist oder Linksrevolutionär, er verhärtete sich nie. Der im Grunde konservative Dutschke liebte seine Heimat, ehrte seine Mutter, achtete gesellschaftliche Konventionen und war zutiefst christlich. Er träumte vom Sozialismus nicht, weil er von linker Abstraktion erfüllt war, sondern weil er seine Umwelt, die Fünfziger-Jahre-Gesellschaft der BRD wie die spießkommunistische der DDR, als leere Abstraktion erkannte. Dutschke sehnte sich nach der wahren Gemeinschaft der Menschen. Genau genommen war sein Sozialismus kein Programm, kein Plan, keine geschichtliche Eroberung der Zukunft, sondern eine Befreiung vom Jetzt. Keine Zerstörung des Herrschenden, sondern ein Erwachen des Schlafenden. In Dutschke vollzog sich das in der deutschen Geschichte so typische periodische Aufbäumen der Innerlichkeit, eine faustische Sehnsucht nach Leben. Mit diesem Streben nach Reinheit, Opfer und wahrer Freiheit stand er in der Tradition eines deutschen sittlichen Fanatismus. Die Projektion der Sehnsucht nach Erlösung durch wahre Gemeinschaft auf die Nation, findet sich schon in den romantischen Erlösungsphantasien eines Max von Schenkendorf, in Schillers "einig Volk von Brüdern", im Traum eines sittlichen Weltmachtanspruchs Deutschlands in Heines "Wintermärchen", im nationalen Sehnen eines Arthur Moeller van den Bruck und seinem Traum von einem "dritten Reich", oder mancher Nationalrevolutionäre der 20er und 30er Jahre, wie etwa Harro Schulze-Boysen, dem die Nation eine "Rückkehr zu den Müttern" war. Nichts anderes griff Dutschke auf.

Dabei geht es nicht um eine Vereinnahmung Dutschkes, der sich zu Recht als Marxisten sah. Aber ihn kurzerhand als "Linken" zu klassifizieren, wäre genauso eine Vereinnahmung, die verdeckt, worum es eigentlich geht: eine Deutung seines Wesens.


 
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