© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Studentenrevolte: Am Heiligabend vor 20 Jahren starb Rudi Dutschke an den Folgen des Attentats von 1968
Hannes Heer forderte seine Verbannung
Werner Olles

Am Spätnachmittag des Heiligabend erlitt Rudi Dutschke in seinem dänischen Wohnort Aarhus einen epileptischen Anfall und ertrank in der Badewanne. Der aus Luckenwalde in der ehemaligen DDR stammende frühere SDS-Sprecher war bis zu dem Attentat auf ihn am Gründonnerstag 1968 die Personifikation der antiautoritären Studentenbewegung. An seiner Beisetzung in Berlin-Dahlem am 3. Januar 1980 nahmen fast 8.000 Trauergäste teil.

Wenige Tage nach seinem tragischen, viel zu frühen Tod konnten Passanten an einer Schule im Frankfurter Stadtteil Bockenheim ein Graffiti lesen: "Rudi, in den siebziger Jahren haben wir gelernt, in den achtziger Jahren werden wir siegen!" Tatsächlich bedeutete jedoch sein Tod nicht nur eine tiefe Zäsur in der politischen Praxis der Alternativ-Bewegung und der demokratisch-sozialistischen Opposition in der BRD, sondern hinterließ auch große Betroffenheit bei den Freunden und Weggefährten, die seinen Weg bis zu den Bremer Grünen mit Interesse und solidarischer Kritik verfolgten.

Dutschkes politische Sozialisation führte ihn von der protestantischen "Jungen Gemeinde" in Luckenwalde über den spät-dadaistischen, anarcho-kommunistischen Ausläufer "Subversive Aktion" zum Berliner SDS. Dieser Weg ist ebenso wie die Kämpfe und Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und die durch die Spaltung Deutschlands gebrochene Kontinuität des proletarischen Klassenkampfes, seine radikale Kritik an der herrschenden Politik des sogenannten "sozialistischen Lagers", das er schon frühzeitig als "realpolitisch verrottet und verkommen" entlarvte, nur zu verstehen im Kontext eines unorthodoxen und revolutionären Marxismus, der auch zur Selbstkorrektur fähig war, wenn es die historischen und politischen Einschätzungen erforderten.

Dutschke schwebte ein breites Bündnis vor

So vermittelte er einen völlig neuen Begriff kompromißloser, militanter und revolutionärer Politik, die auch die Möglichkeit einschloß, sich abzusetzen von jenen KP-Simulationen, die infolge der Auflösung des SDS entstanden waren und nun mit einem Bein in Moskau und mit dem anderen in Peking oder Tirana tanzten und dabei von der Thälmann-Ära träumten. Andererseits aber wollte Dutschke auch nicht den Verlockungen einer Entspannungspolitik Marke SPD auf den Leim gehen, die bei ihrer Anbiederung an die Führungen der Ostblock-Staaten die Dissidenten jener Länder als bloße "Störfaktoren" wahrnahm und jegliche Kontakte mit diesen mied wie der Teufel das Weihwasser.

Rudi Dutschkes Ziel war es, die Studentenbewegung in eine Volksbewegung zu transformieren. Das von ihm und Bernd Rabehl, einem weiteren aus der DDR stammenden Studentenführer, initiierte Projekt "Freie StadtWestberlin" war daher auch als Versuch angelegt, eine Rückbesinnung auf die verschütteten nationalrevolutionären Traditionen innerhalb der revolutionären Linken zu thematisieren. Die Repressionen gegen Wolf Biermann, Robert Havemann und Rudolf Bahro, der Bahro-Kongreß 1978, Rudis Aufsätze in der Zeitschriften Konkret und das da in den Jahren zuvor, die von den "rechten" Nationalrevolutionären Henning Eichberg und Wolfgang Strauß sogleich im Sinne einer durchaus respektvollen Annäherung beantwortet wurden, vor allem aber seine Einsicht – die er primär sowjetischen Dissidenten verdankte –, daß die Sowjetunion und mit dieser notwendigewrweise auch ihr treuester Vasall, die DDR, sich in einem permanenten Zersetzungsprozeß befanden und die Jahrtausendwende nicht überleben würden, bewogen ihn schließlich, über das Konzept einer ökologisch und radikal-demokratisch orientierten Partei nachzudenken. Ihr sollten weder die alten Kader des von der Stasi finanzierten SED-Ablegers DKP noch diejenigen der marxistisch-leninistischen Partei-Simulationen angehören. Was ihm vorschwebte, war ein Bündnis aus undogmatischen Sozialisten, National-Neutralisten, Wertkonservativen, grünen Ökologen und allen demokratischen Kräften von links bis rechts, die sich einerseits vom Stalinismus und GULAG-System, andererseits vom Nationalsozialismus und Auschwitz distanzierten.

Dieses von ihm so geplante neue Bündnis scheiterte jedoch schon kurz nach seinem Tod. Den Ton innerhalb der Grünen gaben schon bald nach der Herausdrängung der konservativen und nationalen Kräfte wieder die alten Funktionäre und Kader der längst zerfallenen ML-Bewegung im Verein mit zielstrebigen Karrieristen an, die es von ehemaligen Laufburschen diverser Frankfurter SDS-Größen schließlich bis an die Spitze des Auswärtigen Amtes verschlagen sollte.

Als Schüler erlebte er 1957 ein Schlüsselereignis

Rudi Dutschkes nationaler Impetus ist sehr lange – und aus klar ersichtlichen Gründen – auch von seinen früheren Genossen totgeschwiegen worden. Erst der ehemalige SDS-Bundesvorsitzende Karl-Dietrich Wolff hat nach Bernd Rabehls Offenbarungen, wenn auch zögerlich, dazu Stellung genommen und dies so bestätigt. Später hat auch Wolfgang Kraushaar in Reemtsmas Zeitschrift Mittelweg Dutschkes nationalrevolutionäre Theorien in dem Sinne problematisiert, daß er sie auf ein biographisches Schlüsselereignis im November 1957 reduzierte. Als siebzehnjährige Schüler begründete Dutschke seine Weigerung, in der Nationalen Volksarmee zu dienen, mit den Worten, er sei nicht bereit, "in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen, in einer Bürgerkriegsarmee, und zwar in zwei deutschen Staaten, ohne wirkliche Selbständigkeit auf beiden Seiten".

Mit bloßem Pazifismus hatte eine solche Haltung nichts mehr zu tun, mit einem gesamtdeutschen Patriotismus dafür umso mehr. Immerhin brachte ihm sein Widerstand eine – natürlich auch durch seine späteren politischen Aktivitäten verstärkt hervorgerufene – lebenslange Observierung durch die Stasi und ein nach unten korrigiertes Abiturzeugnis ein, was wiederum die Verweigerung des angestrebten Sportstudiums in Leipzig nach sich zog. Statt dessen mußte er sich nun als Industriekaufmann ausbilden lassen.

Insgesamt bewertet Kraushaar aber Dutschkes Versuche einer Reaktualisierung der deutschen Frage als "gefährlich", seine Sprache habe "Mißverständnisse von rechts durchaus in Kauf genommen". Mit seiner These einer "geschichtlichen nationalen Substanz" habe er jedoch "die von ihm ansonsten bemühte Denkfigur einer Dialektik zwischen Internationalismus und Nationalismus aufgegeben" und sich selber zum "Ideologen des Nationalen" gemacht. Obwohl dies so natürlich nicht zutreffend ist, weiß Kraushaar ganz genau, wo der Spaß aufhört, und wo es beginnt ernst zu werden.

Tatsächlich hat Dutschke die ihm unterstellte Dialektik von Nationalismus und Internationalismus bis in den Vormärz des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt. Als er im Berliner Oberbaumblatt die NSDAP neben KPD und SPD zu den drei bedeutendsten deutschen Arbeiterparteien zählte, brach er damit ein weiteres Tabu, das ihm die dogmatischen Linken nie verzeihen sollten. Er war aber auch der Auffassung, daß man nach 1945 wegen der mangelnden sozioökonomischen Macht von einer "Zerschlagung der Nation" sprechen müsse, daher sei es die Aufgabe der Arbeiterklasse, ein nationales Klassenbewußtsein zu entwickeln und für die Wiedervereinigung zu kämpfen. Prompt erfolgte von der Sozialdemokratie, die ihre Entspannungspolitik ernsthaft gefährdet sah, der Vorwurf des "Linksnationalismus", den er mit dem Argument zurückwies, dies sei nur eine weitere Variante des von Jürgen Habermas einst gegen ihn erhobenen Vorwurfs des "Linksfaschismus".

Hannes Heer forderte den Ausschluß Dutschkes

Besonders pikant an diesem Vorwurf wirkt in der Rückschau, daß nach Dutschkes und Krahls Organisationsreferat auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS Anfang September 1967 in Frankfurt am Main ausgerechnet der Bonner Delegierte Hannes Heer, ein verkniffener KP-Traditionalist, den Vorwurf des "Linksfaschismus" polemisch aufgriff und Dutschkes Ausschluß aus dem Verband forderte, woraufhin der Berliner Delegierte Christian Semler Heer einen Feuerwerkskörper unter den Stuhl warf.

Die Forderung nach Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands war eine Konstante in seiner politischen Biographie. Es ging ihm um die Option einer Aufhebung der Spaltung Deutschlands unter freiheitlich-sozialistischen Vorzeichen. Die "deutsche Misere" verstand er immer auch als eine "linke Misere". Licht zu bringen in die deutsche Situation und der herrschenden Politik eine Alternative zu bieten, sollte ihm jedoch nicht mehr gelingen. Die Zeit, die ihm noch verblieb, war dafür entschieden zu kurz. Dennoch ist das Bockenheimer Graffiti nicht gänzlich illusionär, denn 1990 wurde zumindest einer seiner Träume wahr: Deutschland wurde wiedervereinigt.


 
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