© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Vergessene Schriftsteller (IX): Hans Henny Jahnn
In den Webfäden der Schöpfung
Werner Olles

Hans Henny Jahnn, am 17. Dezember 1894 in Stellingen bei Hamburg als Sohn eines Schiffbauers geboren, emigrierte nach dem Besuch der Oberrealschule in Hamburg als Kriegsgegner 1915 nach Norwegen. Hier schrieb er das Drama "Pastor Ephraim Magnus", für das er 1920 von Oskar Lörke mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde. Nach seiner Rückkehr aus Norwegen gründete er gemeinsam mit seinem Freund Gottlieb Friedrich Harms in Eckel bei Klecken am Nordrand der Lüneburger Heide die neuheidnische Glaubensgemeinschaft "Ugrino". Sie war der zum Scheitern verurteilte Versuch, Jahnns Privattheologie und antichristliche Kulturkritik mit einer kultischen Archaik zu verbinden, die sich jedoch letztlich als nicht lebensfähig erwies.

Seit 1922 beschäftigte sich Jahnn mit dem Orgelbau. Nach dem Zusammenbruch der "Ugrino"-Idee im Jahre 1925 wurde er zu einem der Wegbereiter der sogenannten Orgel-Reformbewegung der zwanziger Jahre. Bereits in Norwegen hatte er sich autodidaktisch mit der Orgel und ihrer kultischen Funktion beschäftigt, und so bestritt er bis 1933 seinen Lebensunterhalt hauptsächlich als amtlicher Orgelsachverständiger durch die Renovierung und Konstruierung von über 100 Orgeln.

Das grundlegende Werk Jahnns war jedoch der Roman "Perrudja". Er erschien erst 1929, war aber bereits im norwegischen Exil entstanden. Perrudja ist ein Wesen ohne erinnerbare Vergangenheit, ohne ersichtliche Herkunft, ein Halbwesen zwischen Troll und Mensch.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor Jahnn sein Amt als Orgelbauer und emigrierte zunächst in die Schweiz, wo er sich bei dem Germanisten Walter Muschg aufhielt. 1934 kaufte er sich auf der zu Dänemark gehörigen, in der Ostsee liegenden Insel Bornholm einen Bauernhof, den er bis 1940 bewirtschaftete. Jahnn verstand sich jedoch nie als Emigrant und hatte auch keinerlei Kontakte zum literarischen Exil. Vielmehr besaß er als Mitglied der Reichsschrifttumskammer einen reichsdeutschen Paß und galt im rechtlichen Sinne als Auslandsdeutscher. Er veröffentlichte ohne jegliche Probleme in Deutschland und reiste frei umher. Selbst als Dänemark von 1940 bis 1945 von der Wehrmacht besetzt wurde, blieb Jahnn völlig unbehelligt. Seine Einstellung zum NS-Regime war ambivalent, und auch umgekehrt beruhte die Einstellung des Regimes zu dem Schriftsteller auf einem "ungeklärten Zustand" (Uwe Schweikert). Auf Bornholm entstand auch Jahnns Hauptwerk, die Romantrilogie "Fluß ohne Ufer" ("Das Holzschiff", 1949; "Die Niederschrift des Gustav Anias Horn", zwei Teile, 1949-51). Die Trilogie handelt von den uferlosen Konflikten, in die der Mensch mit all seiner Macht gerät, wenn er irgendwo in die Webfäden der Schöpfung oder der Menschenwelt und innerhalb dieser in das Erotische und Sexuelle eingreift. "Fluß ohne Ufer" gehört auch heute noch zu den großen Prosawerken unseres Jahrhunderts und befaßt sich wie die meisten Dramen Jahnns mit dem metaphysischen Notstand der Menschen, die sich alle Qualen aufladen, um Gott zu einer Antwort zu zwingen. Da sie jedoch diese Antwort nie erhalten, stürzen sie sich aus Lebensangst schließlich in den Tod.

In Jahnns letztem Werk, dem Roman "Die Nacht aus Blei" (1956), erreichte dieser Zustand einen kaum mehr überbietbaren Höhepunkt. Auch hier stellte Jahnn wieder die Frage nach Sinn und Ziel des Geschlechtlichen, das er uneingeschränkt bejahte. In seinen letzten Lebensjahren engagierte der Schriftsteller sich vor allem kulturpolitisch als Mitglied der Akademien in Hamburg, Mainz und Ost-Berlin und politisch als engagierter Warner vor der atomaren Bedrohung der Menschheit.

Hans Henny Jahnn starb am 29. November 1959 im Alter von 64 Jahren in Hamburg. Ein unvollendeter homoerotischer Liebesroman "Jeden ereilt es" (1968) und das Atomdrama "Der staubige Regenbogen" (1961) erschienen erst aus seinem Nachlaß. Dieser Dichter, Orgelbauer, Landwirt, Pferdezüchter und Gründer einer Glaubensgemeinschaft, den die Ideologien seiner Zeit in keiner Hinsicht berührten, hinterließ ein Werk, dessen reiche und dichte Sprache voll ist von einzigartigen norwegischen Impressionen, Reflexionen, Jugenderinnerungen und Versuchen, die Wirklichkeit neu zu entdecken.


 
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