© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Hoffnungsträger Putin
von Kai Guleikoff

Der größte Flächenstaat der Erde hat gewählt. Etwa 107 Millionen Wahlberechtigte, verteilt über 11 Zeitzonen, waren aufgerufen, an die Abstimmungsurnen zu treten. Über 60 Prozent der Angesprochenen folgten. Neben der Entscheidung über die 450 Abgeordneten der Duma, des russischen Unterhauses, konnten die Stimmen für Regionalparlamente, Gouverneure und Stadtverfassungen innerhalb der 89 Regionen und Teilrepubliken abgegeben werden.

Staatspräsident Jelzin und Ministerpräsident Putin ging es in erster Linie darum, den wachsenden Einfluß der Kommunisten in der Duma und in den Regionalverwaltungen zu schwächen. Immerhin sollen sich 61 Prozent der russischen Bevölkerung nach den Zeiten von "Väterchen Breshnew" zurücksehnen, in denen die Sowjetunion zweite Weltmacht war und es keine Sorgen um die sozialen Existenzgrundlagen gab. Mit dem Dollarvermögen des russischen Multimilliardärs und Jelzin-Beraters Beresowski wurde die politische Gegenbewegung "Einheit" als Kreml-Partei installiert. Beresowski gehört zu der zweiprozentigen Oberschicht der Neureichen, die inzwischen die russische Gesellschaft beherrschen. Um vom Chaos der Innenpolitik abzulenken, wurde der zweite Tschetschenienkrieg entfacht und damit jede diplomatische Lösung dieses Konfliktes hintertrieben. Der Krieg wird nach Nato-Doktrin vorwiegend mit Luftangriffsmitteln geführt und brachte militärische Erfolge, die mit den Namen Putin und Jelzin in Verbindung gebracht werden. Es gelang zwar nicht, bis zum Beginn der Duma-Wahlen Grosny als Rebellenhauptstadt einzunehmen, doch die zensierten Bildberichte künden von täglich neuen Siegen. Dadurch gelang es, eine uneingeschränkte Zweidrittel-Mehrheit im Volk für den Krieg zu gewinnen.

Putin beherrscht die Partitur psychologischer Beeinflussung. Dieses Instrument gehörte zum Handwerkszeug des ehemaligen Leiters des russischen Inlandgeheimdienstes FSB. Das Wahlergebnis ist ein bedeutender Punktsieg gegen die orthodoxen Kommunisten und stärkt das vom Westen erwartete Demokratieverständnis. Jelzins Präsidialdiktatur kann nicht auf Dauer mit "Übergangsschwierigkeiten" entschuldigt werden. Putin wird nun immer mehr zum Hoffnungsträger, das Riesenreich innenpolitisch zu stabilisieren und außenpolitisch wieder berechenbar zu machen. Ein Konsens mit den Kommunisten muß gefunden werden für einen Sonderweg zur russischen Form der Marktwirtschaft. Westliche Kopien waren bereits zur Zarenzeit nur von örtlichem Erfolg. Rußland hat eine eigenständige tausendjährige Entwicklung hinter sich, die mehr asiatisch als westeuropäisch geprägt ist. Ungeduld wäre daher der größte politische Fehler.


 
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