© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Nietzsche-Jahr: Wie der deutsche Philosoph das Denken unseres Zeitalters beflügelte
Zurück in die Zukunft
Baal Müller

Wenn in wenigen Tagen die Korken knallen und Milliarden Menschen wie jedes Jahr zu Silvester die Köpfe ins Genick legen und zum Himmel starren, um ein hinreichend bekanntes, vielleicht diesmal noch etwas aufwendigeres Schauspiel zu bestaunen, werden sie, wie üblich, viele bunte Sternchen erblicken, die nach kurzem Aufleuchten zerstieben, verlöschen und wieder verschwinden. Ein tanzender Stern wird nicht darunter sein. Warum auch? Wer von uns trägt auch, wie es in Nietzsches "Zarathustra" heißt, Chaos genug in sich, um einen tanzenden Stern zu gebären?

Nur ordentliche Sterne erlauben wir uns zu Weihnachten und Neujahr; neben den genannten, die uns den Millenniumshimmel erleuchten werden, etwa solche, die nach Zimt und Nüssen schmecken, oder besonders auch denjenigen, der vor zweitausend (und ein paar Jährchen mehr) drei Weise zu einer unscheinbaren Krippe geführt haben soll. Im kommenden Jahr wird vor allem dessen gedacht, der in dieser Krippe zur Welt kam und durch seinen – ordentlichen – Stern bereits allgemein angekündigt war. Dem anderem, dem mit dem tanzenden Stern, welcher erst noch zu gebären ist, werden anläßlich seines hundertsten Todestages im August wohl hauptsächlich nur feuilletonistische Ehrungen zuteil werden.

Dennoch war das zu Ende gehende Jahrhundert, wenigstens geistesgeschichtlich, geradezu sein Jahrhundert, Nietzsches Jahrhundert. Alle haben sich auf ihn berufen, von ihm gelernt, abgekupfert oder ihn nachgeäfft, Generationen von Schriftstellern, Dichtern, Gymnasiasten, Künstlern und später auch Politikern und Professoren. Neben den Unzähligen, die einen geradezu abenteuerlichen Kult um den Philosophen trieben, die kümmerlichen Regungen ihrer verspäteten Pubertät als dionysisch priesen und sich für alle möglichen verqueren Ideen auf Zarathustra beriefen, war er Wegweiser für Dichter wie Thomas Mann und Gottfried Benn, für Robert Musil und Stefan George, für Philosophen wie Ludwig Klages, Martin Heidegger und Karl Jaspers, die ihm alle drei umfangreiche Bücher widmeten, für fast alle neueren französischen Denker von Derrida bis Deleuze, von Bataille bis Benoist.

Er beeinflußte sämtliche Avantgarden vom Symbolismus über den Expressionismus zum Surrealismus, überstand seine Deformation im Dritten Reich, ohne daß seine nachfolgende Rezeption allzu großen Schaden erlitten hätte, und erlebte in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein gewaltiges Comeback im Zeichen der Postmoderne.

Selbst für die zeitgenössische Kulturwissenschaft und Medientheorie kann Nietzsche als Anreger gelten. Fragt man heute, nach einem Jahrhundert Nietzsche-Forschung und Nietzsche-Rezeption, worin das Bleibende und Gültige dieses Philosophen besteht, der mehr noch als Phänomen und Faszinosum gewirkt hat, so steht man sogleich vor der Frage, was seine Lehre eigentlich gewesen sei und ob man eine solche überhaupt aus seinen zahllosen Aphorismen, Fragmenten, Dichtungen und Essays rekonstruieren könne.

An Versuchen hierzu hat es nicht gefehlt. Die prominentesten Kandidaten für eine solche zentrale Lehre und Botschaft etwa waren die Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der Duplizität des Dionysischen und Apollinischen, die Forderung, den Menschen zu überwinden und den Übermenschen zu schaffen, oder die Behauptung, daß alles der Wille zur Macht beherrsche oder vielmehr sogar Wille zur Macht sei.

In diesem letzten Gedanken, nach dem Nietzsche sein geplantes Hauptwerk benennen wollte – was ihm dann seine Schwester auf nicht ganz glückliche Weise abnahm –, glaubte Heidegger Nietzsches zentrale These ausmachen zu können. Nietzsche habe demnach eine Antwort auf die alte metaphysische Frage zu geben versucht, was das Seiende seinem Wesen nach und im Ganzen eigentlich sei, und er habe sich mit seiner Antwort "Wille zur Macht" in die von Plato begründete Tradition der abendländischen Metaphysik eingeordnet.

Obgleich er sich selbst als Überwinder und Zertrümmerer dieser Tradition gesehen hat (und als einer, der mit dem Hammer philosophiert), erscheint er nach Heideggers Interpretation als deren Vollender, ja sogar als letzte Stufe in einem geistigen Prozeß, der seine Abkunft von einem Willen zu technischer Bemächtigung immer deutlicher zum Ausdruck bringt. Vieles spricht gegen eine solche Lesart: nicht nur viele andere Gedanken Nietzsches, wie sein Ideal vom großen Jasager zum Leben, der weniger will und fordert als vielmehr aushält, trotzdem lacht und triumphiert, sondern sein gesamtes, bewußt unsystematisches und jede Kohärenz verweigerndes Philosophieren.

Auch um die anderen bekannten, unendlichmal trivialisierten Nietzscheanismen steht es ähnlich; zu seiner berühmten Wiederkunftslehre etwa gibt es sowohl physikalisch-kosmologische als auch pädagogisch-moralische Interpretationen. Im einen Fall bezieht sich der Gedanke der Wiederkunft auf den Kosmos als Gesamtheit des Seienden, in dem irgendwann, nach Ablauf aller möglichen Kombinationen und nach Verwirklichung aller möglichen Kräfteverteilungen, sich alles wiederholen müsse, im anderen Fall handelt es sich um eine Anweisung zur Lebenskunst, nämlich so zu leben, daß man immer wieder so leben könnte und wollte.

Konkreter und deshalb stets mit leidenschaftlicher Zustimmung oder Ablehnung rezipiert sind Nietzsches Vorstellungen zur Zucht und Auslese. Angesichts der gentechnischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund einer zunehmenden Enttabuisierung dieses Themas könnte Nietzsche auch in diesem Zusammenhang eine neue Aktualität gewinnen.

Viele Gedanken und Interessen Nietzsches sind auch heute noch spannend und aktuell, oft auch solche, an die gewöhnlich nicht zuallererst gedacht wird: seine Einsichten in die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache, in die Zeichenhaftigkeit auch biologischer und vielleicht sogar physikalischer Prozesse und nicht zuletzt auch seine Bemerkungen zu Problemen des Bewußtseins und Selbstbewußtseins. Vor allem aber ist es sein geistiger Habitus, der immer noch fasziniert: seine Freiheit und Unabhängigkeit, seine Wahrhaftigkeit bei aller gewußten und betonten Beschränktheit und Perspektivität des Erkennens, sein energischer Kampf gegen scheinheilige Moral und seine pragmatische Kritik an überflüssigem, schädlichem Wissen, die existenzielle Dringlichkeit seines Fragens und Forschens, sein spätes Hellenentum, das sich mit einer unerhört modernen sprachlichen Innovation verbindet, und nicht zuletzt seine heidnische Orientierung am Leben als sinn- und wertsetzender Kraft.

Nietzsche selbst war der optimistischen Ansicht, daß seine eigentliche Wirkung erst im 21. Jahrhundert beginnen werde. Das neue Millennium wird zeigen, welche Sterne auch weiterhin noch leuchten.


 
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