© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Oper: Willy Decker inszeniert Puccinis "La Bohème" in Köln
Ein Spiel um Liebe und Tod
Julia Poser

Wenn sich nach den wenigen Takten des Vorspiels der Vorhang hebt, sieht der Zuschauer nicht die erwartete und allgemein übliche Künstlermansarde über den Dächern von Paris; für den Kölner Regisseur Willy Decker ist das Leben der jugendlichen Bohemiens ein Balanceakt zwischen Sein und Schein, zwischen Realität und Traum, und wo könnte das besser dargestellt werden als auf einem Theater im Theater.

Decker hat deshalb seine recht erfolglosen jungen Künstler in einem verlassenen Theater unserer Tage angesiedelt. Dort versuchen sie ihre Träume von Kunst und Liebe spielerisch zu verwirklichen. Rodolfo hält sich für einen Dichter, Marcello für einen Maler, Schaunard klimpert auf dem Klavier, und der Philosoph Colline sammelt alte Bücher. Auch Mimi, die reizende junge Stickerin, spielt ihre Rolle in diesem zeitlosen Stück um Jugend, Liebe und Tod, während sich die kapriziöse, aber energische Musetta als temperamentvolle Chansonnette produziert.

Für diese nach Glück, Hoffnung und Ewigkeit suchenden Jugendlichen baut der Ausstatter Wolfgang Gussmann einen Bühnenrahmen mit einigen vergessenen Requisiten auf. Er stellt ein glitzerndes Karusell für den weihnachtlichen Trubel auf der Straße dazu, das, im dritten Bild von Schneeflocken umweht, kalt und verlassen die ganze Hoffnungslosigkeit der Liebenden ausdrückt. Decker gelingen reizvolle, aber auch beklemmende Momente: So löschen Mimi und Rodolfo gemeinsam ihre Kerzen und das Tete-à-tete zu verlängern, und lächelnd gibt Rodolfo Mimi ihren Schlüssel zurück, nachdem sie eingewilligt hat, bei ihm zu bleiben. Daß Mimis Lebensuhr abläuft, versinnbildlicht eine kurze Umarmung durch einen als Tod Maskierten im Straßentrubel. Sie stirbt auch nicht im Kreis der Freunde; nach Rodolfos letztem schmerzlichen Aufschrei verlassen alle die Bühne. Die tote Mimi bleibt allein. Eine ungewöhnliche, aber bewegende Deutung.

Von der Traumbesetzung in der Kölner Oper kann man nur schwärmen. Für eine erkrankte Kollegin sprang Fiorella Burato als Mimi ein. Die junge Sängerin aus Manuta, die in kürzester Zeit eine internationale Karriere gemacht hat, bezauberte die Zuhörer vom ersten "Mi chiamano Mimi" (man nennt mich Mimi) bis zum letzten verlöschenden "Dormire" (schlafen). Mit ihrem ausdrucksvollen, glänzenden Sopran, einer atemberaubenden Technik und sicherer Höhe sowie schauspielerischem Talent gab sie eine ergreifende Darstellung der Todgeweihten.

Julie Kaufmann brachte den berühmten Walzer der Musetta mit brillanter, schmelzender Stimme und lebhaftem Spiel. Übrigens verwendete Puccini dieses Walzerthema schon früher einmal zum Stapellauf einer Kriegsschiffes in Genua! Auch über die vier Bohemiens kann nur Lobendes gesagt werden. Sidwill Hartmann sang mit zärtlich-romantischen, aber dennoch kraftvollen Tenor den Poeten Rodolfo. Zu Recht erhielt er für das "Eiskalte Händchen" Szenenapplaus. Ihm ebenbürtig der großartige Bariton von Michael Volle als Marcello. Mit schönem warmen Baß verabschiedete sich Andrew Collis von seinem Wintermantel. Tobias Scharfenberger besang amüsant den Gesangsuntericht an einem Papagei.

Im zweiten Bild bewährte sich der stimmschöne, aber etwas hektisch agierende Chor. Erich Wächter am Pult des Kölner Gürzenich Orchesters ließ die poetische Atmosphäre, den duftigen lyrischen Ton von Puccinis Oper meisterlich erstehen, einer Oper, von der Thomas A. Edison sagte: "Menschen sterben, Regierungen wechseln, aber ’La Bohème‘ wird immer leben!"


 
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