© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Abrechnung mit Weihnachtsmärkten II: Wenn Tannenbäume sprechen
Der Gipfel der Moderne
Baal Müller

Gwöhnlich gehe ich nicht über Weihnachtsmärkte. Ich dachte bislang immer, daß ich das irgendwie alles schon kennen würde und daß sich das Angebot an Kerzen, Räuchermännchen, Strohsternen, Lebkuchen, goldenen Engeln aus Ton und Weihnachtsmännern mit gehäkelten Mützen von Jahr zu Jahr wiederhole. Allein, ich wurde neulich eines besseren belehrt.

Als ich nämlich an so einer hölzernen, tannegeschmückten Bude vorbeiging, öffnete ein kleiner, auf der Verkaufstheke stehender Weihnachtsbaum plötzlich zwei große, runde Augen, die ich eigentlich für Kristallkugeln gehalten hatte, klappte einige Zweige auseinander und bildete aus ihnen eine Art Mund. Etwa einen so weichen stoffigen Mund, wie Figuren aus der Muppet-Show ihn haben. Dann begann er mit lauter, etwas blecherner Stimme zu singen. Ich glaube "I wish you a merry Christmas", aber so genau erinnere ich mich nicht mehr. Staunend blieb ich stehen: Ein singender Weihnachtsbaum-Roboter. Offensichtlich bin ich nicht auf dem neuesten Stand; ich hätte wohl öfters einen Weihnachtsmarkt besuchen sollen. Vielleicht ist mir in den vergangenen Jahren das berühmte fünfte Lichtlein aufgegangen, von dem es bekanntlich heißt: "Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast Du Weihnachten verpennt."

Nun ja, wahrscheinlich bin ich einfach bloß altmodisch, ignorant und reaktionär, ohne Verständnis für die technischen Innovationen auf den Weihnachts-Märkten der Zukunft. Ich glaubte bisher allen Ernstes, allein die Art des Schmuckes und die Beleuchtung würden traditionelle und moderne Weihnachtsbäume voneinander unterscheiden: Aus meiner Kindheit kannte ich diese Rustikalen mit rotbackigen Äpfeln und honigduftenden Kerzen und die eher Flippigen und Progressiven, mit Lammetta, elektrischem Licht und Glaskugeln. Letztere befanden sich meist in alten Schuhkartons oder ähnlichen Behältnissen und wurden von der Mutter alle Jahre wieder jedoch wegen ihrer Zerbrechlichkeit in stetig schwindender Anzahl aus dem Keller hervorgeholt.

Dann gab es noch als Gipfel der Modernität solche praktischen und handlichen Plastikbäume, die man wie ein Teleskop auseinanderziehen und im Hotelzimmer, Wohnwagen oder notfalls auf dem Rücksitz eines PKW aufstellen konnte. Mein Onkel hat einen solchen besessen. Er war ein nüchterner, sparsamer und unromantischer Mann; jedes Jahr hat er diesen Baum aufgestellt und darunter Kugelschreiber, Kalender und sonstige Werbegeschenke von Banken und Sparkassen ausgebreitet, um seine Familie damit zu beschenken.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen