© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Wehrmacht in der Diskussion: Ein wissenschaftlicher Sammelband bemüht sich um Differenzierung
Einseitiger Blick auf eine Generation
Gerhard Stoltenberg

Ich wurde im Januar 1944 mit 15 Jahren zu einem Marinebataillon der Flugabwehr bei Brunsbüttel an der Elbemündung einberufen. Dort habe ich 14 Monate meinen Wehrdienst geleistet, in den letzten Kriegswochen dann noch auf dem Flugplatz Leck. Über die Außenelbe flogen fast täglich die alliierten Bombergeschwader für die großen Luftangriffe auf Hamburg, Berlin und andere Städte in Nord- und Mitteldeutschland ein. Es war ein fordernder Dienst; bei Tieffliegerangriffen gab es Opfer. Mehrere meiner Verwandten sind als tapfere, untadelige Soldaten gefallen.

So habe ich seit meiner Zeit als Student der Geschichtswissenschaft die Diskussion über die Wehrmacht mit besonderer Anteilnahme verfolgt. Sofort nach dem Ende des Krieges wurde in zahlreichen Zeugnissen die Vielfalt unterschiedlicher, manchmal schroff entgegengesetzter Erfahrungen und Urteile aus dem Kreis der mehr als 15 Millionen deutschen Soldaten, ihrer alliierten Gegner, von Publizisten, Historikern und anderen Zeitzeugen artikuliert. Vor allem in Deutschland schieden sich anfangs nicht wenige Geister bei der Beurteilung des aktiven Widerstandes von Soldaten gegen Hitler, kulminierend mit dem 20. Juli 1944. Was den einen als bewegender, stärkster Ausdruck eines sittlich begründeten Handelns erschien, werteten andere als verzweifelten Versuch, der sicheren Niederlage mit ihren Konsequenzen noch zu entkommen, und lehnten dritte als angeblichen Verrat an den kämpfenden Kameraden ab. Es dauerte einige Zeit, bis sich im Nachkriegsdeutschland allgemein Anerkennung und Respekt für die Widerstandskämpfer und ihre Motive durchsetzte.

Die politischen Fronten waren komplizierter

Zu meinen Jugenderinnerungen gehören zahlreiche Begegnungen mit alliierten Soldaten, die gegen die Wehrmacht gekämpft hatten. Ich ging nach dem Krieg zunächst wieder in meiner Heimatstadt Bad Oldesloe zur Schule. Ende 1946 lud der regionale britische Kommandeur, Colonel Hyde-Smith, einen Gesprächskreis junger Deutscher zu einer politischen Diskussion ein. Als er hörte, daß wir am Krieg teilgenommen hatten, brachte er seine Hochachtung vor den Soldaten der Wehrmacht zum Ausdruck, die er von der Invasion Frankreichs bis zum April 1945 als tapfere und faire Gegner kennengelernt habe. (...)

Das entsprach dem vorherrschenden Urteil in der westlichen Militärgeschichtsschreibung jener Zeit. Vor allem Generalfeldmarschall Erwin Rommel wurde in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in verschiedenen Darstellungen, in Artikelserien und Fernsehfilmen, als einer der großen militärischen Führer seiner Generation, als untadeliger Soldat und geachteter Gegner gewürdigt. Über ihn schrieb der britische Befehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordafrika, Feldmarschall Sir Claude Auchinleck, 1959, er habe Rommel als "guten Soldaten und tapferen Mann" hochgeschätzt. Er selbst gehöre zu jenen, "die einen tapferen, fähigen und anständigen Gegner achten" und wünsche, "den geschlagenen Feind so behandelt zu wissen, wie man selbst behandelt werden wolle, wenn er der Sieger und man der Besiegte gewesen wäre".

Von den wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Nachkriegsjahre verdienen die Beiträge hervorragender Persönlichkeiten der deutschen Emigration besondere Beachtung. Hans Rothfels, damals Professor an der Chicago-Universität, veröffentlichte schon 1948 sein grundlegendes Werk "Die deutsche Opposition gegen Hitler". Sein Urteil über die Wehrmacht war differenziert. Er schilderte die nach 1933 bald zur Anpassung an die Diktatur bereite Haltung führender Militärs wie Blomberg und Reichenau. Aber er stellte zugleich dar, daß untadelige Persönlichkeiten der Generalität wie von Hammerstein-Equord bereits früh eine zunehmend kritische Distanz zu Hitler wählten oder, wie Beck und von Witzleben, nach einer kurzen Zeit des Abwartens zum aktiven Widerstand entschlossen waren. Rothfels wies auf das vorherrschende Selbstverständnis des Offizierkorps des Heeres hin, bei aller Anerkennung des Primats der Politik eine moralisch begründete Identität der Streitkräfte zu behaupten und parteipolitische Einflüsse abzuwehren. Nach seiner Einschätzung war der Einfluß der NS-Ideologie bei der Marine und den Luftstreitkräften größer. So sei es zu verstehen, daß bereits 1938 die ersten konkreten Planungen für einen Staatsstreich von Offizieren des Heeres erfolgten.

Rothfels wollte mit seinem in der Fachwelt der USA stark beachteten Werk den Folgen der alliierten Kriegspropaganda entgegenwirken, in der die Wehrmacht als ein Hitler blind gehorchendes Werkzeug des Imperialismus und der Verbrechen der Diktatur dargestellt wurde. Für ihn verkörperten die Blutzeugen des militärischen und zivilen Widerstandes die besten Traditionen Deutschlands und damit auch die Hoffnungen für seine ethische und politische Erneuerung in enger Zusammenarbeit mit den westlichen Demokratien.

Er stand mit dieser Einschätzung nicht allein. Viele der deutschen Emigranten, die unter der Hitler-Barbarei gelitten hatten und oft den gewaltsamen Tod von Angehörigen und Freunden ertragen mußten, teilten sein Urteil und seine Erwartungen. Sie leisteten einen bedeutenden Beitrag für die beginnende Verständigung eines neuen Deutschlands mit den früheren Feinden im Westen.

In der anschwellenden Literatur über die Jahre 1933 bis 1945 und die Rolle der Wehrmacht wurde früh auf die sehr unterschiedlichen Bedingungen der Kriegführung im Westen und in der Sowjetunion hingewiesen. Im Osten stießen Millionen-Heere in zuvor nie gekannten Größenordnungen aufeinander. Es war von Anfang an die harte Konfrontation zweier ideologisch geprägter Diktaturen, die ihre Brutalität bereits bei der Verfolgung von Gegnern im eigenen Land demonstriert hatten. Hitler und Stalin wußten, daß es um Sein oder Nichtsein ging. Hinter den zunächst rasch vorrückenden deutschen Heeren begannen schon im Sommer 1941 Einsatzgruppen von SS und SD mit den Massenliquidierungen von Juden und politisch mißliebigen Funktionären.

Auch in diesem Zusammenhang hat die Frage nach der Rolle der Wehrmacht bereits in den fünfziger Jahren Historiker in der westlichen Welt intensiv beschäftigt. Als grundlegend galt für sehr lange Zeit das auf eine breite Quellenbasis gestützte Werk des Professors für Internationale Beziehungen am Rußland-Institut der Columbia-Universität, Alexander Dallin, "Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945". Er schilderte 1957 ausführlich die Eskalation einer sich rasch verschärfenden Kriegführung beider Seiten. Bis Ende 1941 gerieten 3,35 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Eine große Zahl kam um, weil es an den organisatorischen Vorkehrungen, oft auch am entschiedenen Willen fehlte, sie alle in menschenwürdige Unterkünfte zu verbringen und angemessen zu verpflegen. Große Teile der Bevölkerung hatten die deutschen Soldaten zunächst als Befreier begrüßt. Aber die Härte des Krieges, die Verbrechen der SS-Einsatzgruppen und die NS-Propaganda gegen die östlichen "Untermenschen" bewirkten einen Stimmungsumschwung.

Stalin antwortete auf die Invasion mit einem rücksichtslosen, grausamen Partisanenkrieg. Dallin schrieb hierzu: "Zwischen dem sowjetischen Hammer und dem nationalsozialistischen Amboß eingeklemmt, war das Volk in den besetzten Gebieten gezwungen zu wählen. … Die Bevölkerung des Ostens empfand dabei deutlich den Unterschied zwischen dem Verhalten des Heeres – dem praktische, auf den siegreichen Ausgang des Krieges bedachte Erwägungen zugrunde lagen – und dem der meisten anderen deutschen Autoritäten."

Er wies zugleich auf konkrete Fälle eines brutalen Vorgehens einzelner Verbände der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung hin und zitierte die berüchtigte Weisung des Befehlshabers der 6. Armee, Generalfeldmarschall von Reichenau, vom Oktober 1941. Reichenau verwarf "mißverständliche Menschlichkeit" gegenüber "Landeseinwohnern und Kriegsgefangenen". "Der Schrecken vor den deutschen Gegenmaßnahmen muß stärker sein als die Drohung der umherirrenden bolschewistischen Restteile." Dallins Ergebnis einer detaillierten Analyse von unterschiedlichen Vorgaben der deutschen Kommandeure lautete: "Beim Heer war jedoch diese Haltung, obwohl offiziell befohlen, eher eine Ausnahme als die Regel."

Die Kriegführung der Wehrmacht in der Sowjetunion war ein zentrales Thema des ersten Kriegsverbrecherprozesses vor dem Alliierten Militärtribunal 1946 in Nürnberg und mehrerer folgender Verfahren. Mit einer bemerkenswerten Begründung lehnte das Gericht den Antrag der Anklage ab, das Oberkommando der Wehrmacht und den Generalstab zu "verbrecherischen Organisationen" zu erklären. Auch die Ankläger hatten diesen Vorwurf nicht gegen die Wehrmacht insgesamt miterhoben. Die Entscheidungsgründe des Tribunals sind offensichtlich von manchen Publizisten und Politikern unserer Tage, wie den Initiatoren der umstrittenen Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", bewußt unterdrückt worden. Von erheblicher Bedeutung war 1946 für das Nürnberger Verfahren die Erkenntnis, daß die zunächst behauptete Schuld der Deutschen an der Ermordung von fast 10.000 gefangenen polnischen Offizieren bei Katyn nicht haltbar war. Alle Anhaltspunkte wiesen vielmehr auf ein Verbrechen der sowjetischen Führung hin. Erst nach dem Umbruch 1990 wurde dies in Moskau amtlich bestätigt.

Wer heute daran erinnert, muß sich gelegentlich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, er wolle "ablenken" oder die "Singularität" der von Hitler und "seinen willigen Vollstreckern" begangenen Verbrechen bestreiten. Das ist eine jener Unterstellungen, die den anspruchsvollen wissenschaftlichen Diskurs über die schreckliche Zeit der Diktaturen erschweren. Die von vielen Zeitzeugen und manchen Historikern seit Dallins bedeutendem Werk herausgearbeitete zunehmende Brutalisierung der Kampfführung in der Sowjetunion beruhte in der bereits erwähnten wechselseitigen Eskalation.

Auch dafür gibt es eindrucksvolle Schilderungen von russischen Zeitzeugen. Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn haben die schockierende Erfahrung der Verbrechen an deutschen Zivilisten bei dem Einmarsch der sowjetischen Armee Anfang 1945 in Ostpreußen beschrieben. Viele tausend Soldaten, die damals als Kriegsverbrecher verurteilt und lange inhaftiert waren, sind in den letzten Jahren von den in Rußland neu geschaffenen Überprüfungsinstanzen rehabilitiert worden.

Die politischen Fronten und Orientierungen waren während des 2. Weltkrieges viel komplizierter, als heute in verbreiteten Klischees unterstellt wird. 1939 hatte die Sowjetunion im Windschatten des Krieges in West- und Nordeuropa Finnland überfallen. 1941 verbündete sich dieses kleine tapfere Volk mit Deutschland, um das erlittene Unrecht wieder zu korrigieren. In den 1940 gewaltsam von Moskau annektierten baltischen Staaten wurden die deutschen Soldaten als Befreier begrüßt. Viele ihrer Bürger meldeten sich freiwillig für den Kriegsdienst gegen die Sowjetunion. Ihre Völker mußten dafür nach 1945 einen furchtbaren Preis bezahlen.

Dies ändert nichts an eindeutigen Verantwortlichkeiten. Hitler hatte den Krieg begonnen, der unendliches Leid über die meisten Völker Europas brachte. Seine wahnwitzige Politik der Massenvernichtung führte zum Holocaust und anderen schrecklichen Verbrechen. Aber dennoch haben nicht nur die Deutschen nach 1945 den Vorwurf der Kollektivschuld zurückgewiesen. Viele hervorragende Persönlichkeiten im Westen und Osten wandten sich entschieden gegen jede summarische Verurteilung.

In den letzten Jahren haben mehrere Einzelstudien unsere Kenntnisse über die Massenliquidierungen in den besetzten Gebieten im Osten vertieft. Besondere Beachtung fand bei den Fachkollegen Christopher R. Brownings Untersuchung "Ganz normale Männer. Das Reservebataillon 101 und die Endlösung." Die Geschichte dieser Einheit und ihrer Reservepolizisten ist erschütternd. Aber Browning wandte sich bald darauf entschieden gegen die These Goldhagens, die Erklärung für die Teilnahme am Massenmord liege in einem "dämonisierenden Antisemitismus", der "die gemeinsame Wahrnehmungsstruktur der Täter und der deutschen Gesellschaft allgemein bildet". Bei den führenden Historikern der USA und Deutschlands hat Goldhagens umstrittenes Werk wenig Zustimmung gefunden. Aber es stimmt nachdenklich, wenn es bei uns mit seinen absurden kollektiven Verurteilungen in einem weiten Bereich der Publizistik auf ganz ungewöhnliches und zumeist unkritisches Interesse stieß. (...)

Warum traten Emigranten in die Wehrmacht ein?

Die schwierige Diskussion über die Wehrmacht zeigt auch, wie sich in Deutschland Grundeinstellungen und Loyalitäten in den letzten fünfzig Jahren verändert haben. Eine der stärksten Antriebskräfte sowohl für die Frontsoldaten wie auch den Widerstand gegen Hitler war der Patriotismus, die Liebe zu Deutschland. Nur so kann man es erklären, wenn nach dem Ausbruch des großen Krieges 1939 ein so kompromißloser Gegner der Nazis wie Martin Nie-möller, U-Boot-Offizier von 1914 bis 1918, sich aus dem Konzentrationslager freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht meldete und namhafte politische Emigranten nach Deutschland zurückkehrten, um für das Vaterland zu kämpfen. Oberst Graf Stauffenbergs letzte Worte vor dem Erschießungskommando am Bendler-Block am 20. Juli 1944: "Es lebe das heilige Deutschland" sind ein anderes Zeugnis für diese Gesinnung. Das ist heute für die meisten jüngeren Menschen kaum nachvollziehbar. Das Werben Konrad Adenauers, Carlo Schmids und anderer in der Nachkriegszeit für einen "geläuterten Patriotismus" als verbindende Grundhaltung war nicht sehr erfolgreich. So haben wir heute erheblich größere Probleme als unsere europäischen Nachbarn, unsere Identität als Nation angemessen zu definieren. Ob dies wirklich ein Vorzug ist und auf Dauer als schicksalhaft hingenommen werden sollte, scheint mir sehr zweifelhaft zu sein. Wie immer man das im einzelnen bewertet, es ist völlig unhistorisch, die Generation unserer Eltern und Großeltern nach aktuellen Befindlichkeiten zu beurteilen. (...)

Gerhard Stoltenberg, 70, war von 1989 bis 1992 Bundesverteidigungsminister. Beim veröffentlichten Text handelt es sich um das leicht gekürzte Vorwort zum Sammelband "Die Soldaten der Wehrmacht", das wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages nachdrucken.


 
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