© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
NATO-Doktrin: Streit über atomaren Erstschlag
Der Ernstfall
Karl-Peter Gerigk

Es ist Herbst 1999. Eine Wiedervereinigung hat es nicht gegeben. Gorbatschow ist längst nicht mehr Präsident eines demokratischen Rußlands. Glasnost und Perestroika sind gescheitert. Der Osten Europas ist durch Wettrüsten in einer tiefen ökonomischen Krise. Alle Reformversuche werden unterdrückt. Aber die Menschen in Berlin und Leipzig sind auf der Straße. Sie demonstrieren für ihre Freiheit und die Einheit Deutschlands, skandieren: "Wir sind ein Volk". Langsam bewegt sich der Zug in Berlin Richtung Mauer. Die ersten Grenzanlagen sind überwunden. Ein nervöser Grenzoffizier gibt den Feuerbefehl. Es kracht. Blutig bleiben die Menschen im Grenzstreifen liegen. Andere laufen in Panik in die Selbstschußanlagen. Wild feuern die Grenzer in die Menge. Die Masse zersprengt, flüchtet.

Zugleich verlassen Panzer die sowjetischen Kasernen. Sie sollen den Anspruch der Kommunisten auf das östliche Deutschland zementieren. Sie überrollen die Demonstranten, wie vor zehn Jahren auf dem Platz des "Himmlischen Friedens" in Peking.

Von den Sowjets provoziert fahren US-Tanks über die Sperre am Check-Point-Charlie. Sie sammeln Verletzte auf und werden unter Feuer genommen. In dieser Situation stellt Präsident Bill Clinton klar: Ziehen sich die Sowjets nicht in die Kasernen zurück und wird an der Mauer weiter auf Menschen geschossen, dann greift die NATO ein – und zwar militärisch. Wie diese militärische Reaktion sein wird ist nicht klar, denn – und das ist keine Fiktion – im Communique des Military Commite der NATO von 1991, Artikel 141, wird die sogenannte "Erstschlag-Doktrin" formuliert, welche den Sinn und Zweck der Nuklearen Streitkräfte und der Strategie der NATO auf einen Punkt bringen will.

Auf der Konferenz der NATO-Regierungschefs vom 7. und 8. November 1991 in Rom wird der defensive Charakter des Bündnisses betont und formuliert, daß die NATO ein Potential an Waffen unterhält, das jedem Angreifer sein Handeln zu einem Risiko werden läßt.

Aber ist dies wirklich NATO-Doktrin? Die Entscheidung über einen Einsatz von Atomwaffen im Verteidigungsfall trifft für Europa der SACEUR. Das ist der Supreme Allied Commander Europe, also der Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa und nach der Konvention der Alliierten Atommächte und Deutschlands ein Amerikaner. Dieser amerikanische Offizier ist jedoch dem Präsidenten der Vereinigten Staaten unterstellt, welcher der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte ist. Leicht kann man sich vorstellen, daß im Falle der Bedrohung und eines Angriffs auf das Bündnis dieser in Loyalität zu seinem Präsidenten handelt und den Einsatz der Atomwaffen nur auf Befehl seines Vorgesetzten vollzieht. Kann man also hier von einer Haltung der NATO insgesamt sprechen? Sicher – der Schutzschild der Atommächte in der NATO gilt auch für Deutschland. Jedoch ist diese Erstschlagoption ("Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt" – C. Schmitt) ein Vorbehalt der Amerikaner, Briten und Franzosen als Atommächte innerhalb des Bündnisses, im Krisenfall jeden Fleck der Erde und insbesondere auch Deutschland zum atomaren Gefechtsfeld werden zu lassen. Dies kann nicht im deutschen Interesse sein.

Doch wie ist die aktuelle Lage? Rußland ist in einer tiefen ökonomischen Krise. Die Bevölkerung hungert, und das Militär kann nicht zufrieden sein. Die Selbstmordrate der Offiziere in der russischen Armee beläuft sich auf über 20 im Monat. Wirtschaftliche Reformen stocken und werden sabotiert, das öffentliche Leben scheint über alle Maßen korrupt, und der Staat ist atomar hochgerüstet. Gefährlich auch das militärische Potential der Ukraine und Weißrußlands. Keine Garantie dafür, daß ein Diktator nicht über Jahresfrist putscht und die alte Bedrohung aus dem Osten für Deutschland wieder konkreter wird. Kann da ein Bündnis wie die NATO auf Abschreckung verzichten?

Es mag die Angst vor der atomaren Katastrophe gewesen sein, die Saddam Hussein im Golfkrieg vom Einsatz chemischer und biologischer Waffen abhielt. Diese Abschreckung stellen Fischers Äußerungen zur Disposition. Aber es sind Koalitionspositionen, die gegen den Ersteinsatz von Atomwaffen wirken wollen. Dies kennzeichnet allerdings die deutsche Angst vor der Verantwortung – oder soll der SACEUR demnächst ein Deutscher werden? Und würden die USA einem nur bedingt handlungsfähigen deutschen General die Entscheidung über den Ausnahmezustand überlassen? Wohl kaum.

Die explizite Mitsprache Europas bedeutet jedoch eine Veränderung der Konventionen in der Kommandostruktur der NATO. Fischers Kritik hat also ihre Begründung – und scheint mehr die mitteleuropäische Sicht der Dinge zu sein, als die rein deutsche. Scharping hingegen betonte in den USA die Bündnistreue Deutschlands und versicherte, daß es nicht das offizelle Bestreben der Bundesregierung sei, den Atommächten bei ihren Möglichkeiten dreinzureden. Hier stehen sich in der Koalition offensichtlich Atlantiker und Europäer gegenüber.


 
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