© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Vor 50 Jahren: "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vor der UNO
Ein Appell an die Vernunft
Kai Guleikoff

Selten ist in der Geschichte ein Begriff kontroverser ausgelegt worden als der des Menschenrechtes. Am 10. Dezember 1998 jährt sich zum 50. Male die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vor den Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris. Nach den Worten des heutigen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, soll dieses Dokument "eine universelle Kultur der Menschenrechte" begründet haben.

Historisch gesehen ist dieser "Versuch" nicht neu. Bereits in den Zehn Geboten, die Moses von Gott erhält, werden Grundsätze der Sittlichkeit definiert und durch die drei monotheistischen Weltreligionen vom Grundsatz her als verpflichtend angesehen. Die erste Staatsverfassung mit der Garantie von Bürgerechten ist die des nordamerikanischen Staates Virginia vom 12. Juni 1776 gewesen. In die Verfassung der Vereinigten Staaten fanden die Menschenrechte am 15. Dezember 1791 Eingang in Form von acht Zusatzartikeln (amendments). Vor den USA erklärte die französische Nationalversammlung am 26.August 1789 die Menschen- und Bürgerrechte in 17 Artikeln (Declaration des droits de l´homme et du citoyen) zur politischen Handlungsgrundlage. Die blutigen Ereignisse, die diesen Erklärungen in den genannten Ländern folgten, zeigen, wie Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften.

Naturrechtliche Grundlagen wurden verworfen

Die Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 entstand aus der Überzeugung, "daß nur eine Verpflichtung der Staaten zur Achtung und Förderung der Menschenrechte gewährleisten kann, daß sich die Schrecken des Nazi-Regimes nicht mehr wiederholen". Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zur Bildung der Vereinten Nationen (Moskau 1943, Dumbarton Oaks 1944 und Jalta 1945) entstanden unter US-amerikanischer Vormundschaft seit 1941 "die vier unabdingbaren Freiheiten, die es im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu gewinnen gelte: die Rede- und Meinungsfreiheit, die Glaubensfreiheit, die Freiheit vor Mangel und die von Furcht". Die Gründungen des Völkerbundes vom 14. Februar 1919 und der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1945 haben die Gemeinsamkeit, daß sie durch die USA betrieben wurden und die Weltkriegsniederlagen Deutschlands und seiner Verbündeten zum Gegenstand nahmen. Die im Juni 1945 verabschiedete Charta der Vereinten Nationen "internationalisierte" erstmalig die Menschenrechte und schuf ein "internationales Völkerrecht". Mit der aufgehobenen nationalen Zuständigkeit wurden unzählige Streitfälle ausgelöst, die bis auf den heutigen Tag die Öffentlichkeit kontrovers beschäftigt. Das internationale Völkerrecht ist zwar nicht rechtlich bindend und einklagbar, soll jedoch ein "von allen Völkern zu erreichendes Ideal" darstellen.

Interessant waren im Vorfeld der Verabschiedung die auftretenden Polarisierungen bei grundsätzlichen Ansichten. Ein Brite, Vertreter der Höherbewertung der Individualrechte, erklärte: "Wir wünschen freie Menschen, nicht wohlgenährte Sklaven." Ein Ukrainer, der den sozialen Grundsicherungen den Vorrang gab, entgegnete: "Freie Menschen können auch verhungern." Muslimische Staaten sahen in der Freiheit der Eheschließung und der Gedanken-, Gewissens- und Relegionsfreiheit einen Angriff auf Glaubenssätze des Koran. Südafrika konnte sich nicht dazu entschließen, den Artikeln die Zustimmung zu geben, in denen erklärt wurde, daß "alle Menschen frei und gleich an Würde geboren" werden und "vor dem Gesetz gleich" sind. Sämtliche Anträge, religiöse oder naturrechtliche Grundlagen in den Artikeln zu formulieren, wurden verworfen. Bei der Schlußabstimmung vom 10. Dezember 1948 in der UNO-Generalversammlung stimmten 48 der 56 Mitgliedstaaten für die Annahme der 30 Artikel. Niemand stimmte dagegen, doch aus den aufgeführten Gründen enthielten sich sechs Ostblock-Staaten (Rußland, die Ukraine, Weißrußland, Polen, Jugoslawien und die Tschechoslowakei), Saudi-Arabien und Südafrika.

Nach 50 Jahren gibt es kaum Grund zu Feiern

Die Welt sah drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sehr bedroht aus. West-Berlin wurde über den Luftkorridor versorgt, und die sowjetische Militäradministration drohte den bei winterlichem Schlechtwetter sich verfliegenden Maschinen mit Zwangslandung oder Abschuß. Die Luftbrückeneinheiten der USA und Großbritannien handelte seit November 1948 gemeinsam und erreichten eine tägliche Transportleistung von 4.500 Tonnen. Kinder und andere Bedürftige wurden evakuiert, ein "Notopfer Berlin" in Form eines Zwei-Pfennig-Aufschlages auf Postsendungen erhoben. In der Prawda erklärte Josef Stalin, die Westmächte hätten eine Einigung über Berlin verhindert, um Krieg entfachen zu können.

Auch noch fünfzig Jahre nach der Menschenrechtserklärung gibt es zahlreiche Kriege und Spannungsherde. Und aktuell streiten sich verschiedene Länder um die Auslieferung Pinochets und Nichtauslieferung Öcalans, denen Verstöße gegen diese Menschenrechte vorgeworfen werden. Doch nicht nur die Politik hat sich zu verantworten, auch die Wirtschaft kommt zunehmend in Konflikt mit den Grundrechten auf soziale Sicherheit (Artikel 22), auf Arbeit (Artikel 23), auf Nahrung und Wohnung (Artikel 25) und auf Bildung (Artikel 26). Selbst in Deutschland sind bei der Grundgesetzreform im Zuge der Angliederung der ehemaligen DDR einige der in der Erklärung verankerten sozialen Rechte nicht einmal zu Staatszielbestimmungen aufgewertet worden.

Mit der am 10. Dezember letzten Jahres begonnenen weltweiten Kampagne verschiedener Menschenrechtsorganisationen zum Jubiläum soll die erschreckende Unkenntnis über die Artikel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verringert werden. Menschrechte sind unteilbar und können deshalb auch nicht "politisch instrumentalisiert" werden. Engagierte Menschenrechtler sollen jetzt weltweit durch die Vereinten Nationen geschützt werden.

Wenn sich die Aktivisten und Veteranen nach fünfzig Jahren wieder für vier Tage im Palais de Chaillot treffen, wird wenig Zeit bleiben und kaum Grund für Feierlichkeiten.


 
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