© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Theater: Uraufführung von Botho Strauß in Zürich
Jede Begegnung ein Anfang
Gerd Sauer

Im Schatten lebt sich’s noch am besten. Sobald es ausgeleuchtet wird, in filmähnlichen Romanzen, die dann meistens zum Männchen-wechsel-dich ausarten, wird’s schwer. So geschehen jetzt auch in dem neuen Stück des kühnsten deutschen Beschreibers der Alltags-Melancholie, Botho Strauß.

Das Stück "Der Kuß des Vergessens" hat sich Zürichs Schauspielhaus gesichert, das hat Reputation neben dem immer bedeutsamer werdenden Theater Neumarkt in Zürich ohnehin nötig. Also pflegt man die Kontakte, und Botho Strauß hat dem scheidenden Direktor Gerd Leo Kuck die Uraufführung zugesichert.

Otto Sander hat er das Stück gewidmet, und der schlägt sich denn auch prompt wie gehabt als komödiantischster Liebhaber des deutschen Theaters durch eine inhomogene Szenenfolge. So inhomogen wie das Leben, die Begegnungen reihen sich aneinander, zwecklos und ziellos. Und wenn Samuel Beckett schon Pate gestanden haben soll, dann bestimmt auch beim Verzweiflungs-Humor, der bisweilen schon kaum mehr zum Lachen ist.

Ein nettes Pärchen wird beobachtet, fast wie im Kino soll der schöne Schein der großen Gefühle wirken. Die Zeugen im Stück meinen einem innovativen Meisterwerk beizuwohnen. Strauß’ Bühnenmenschen sind im begeisterten Zustand verbal kaum zu bremsen. Also geben sie auch hier wieder ihre Gefühle ausschweifend und durcheinander plappernd kund. Im Verlauf des Abends hat der eine oder andere wieder Gelegenheit dazu, aber wenigstens greift auch noch Stille um sich. Vor allem dann, wenn es der Poesie des Textes zuträglich ist. Mehr als in früheren Stücken legt Strauß Wert auf viele neue Geschichtchen. Jede Begegnung ein neuer Anfang. Aber so traurig, wie es heute in den Beziehungskisten auf deutschen Bühnen zugeht, soll das Ganze bei Botho Strauß nun doch nicht vonstatten gehen. Selbst der Tod ist nicht endgültig und wird nur symbolisch vollzogen, wie auch ansonsten nur in der Überhöhung gelebt wird. Am Ende jedenfalls setzt es ein Happyend der friedlichen Zweisamkeit.

Otto Sander als Herr Jelke weiß genausowenig ums Fortkommen wie die geliebte Ricarda (stets durch alle Gefühlslagen bestens changierend: Anne Tismer). Darum setzt jede Begegnung von vorne an. In der Mitte des Stücks ist Jelke tot (und ganz am Ende muß er naturlich des schönen Abschlusses wegen wiederauferstehen). Und dann kommt ein Neuer. (In diesem Fall ist es ebenfalls ein Strauß-Kenner: Burghart Klaussner). Jeder hat mit seinen Problemchen zu kämpfen. Und Jelkes Ehefrau (sehr deutlich spürbar, obgleich im Stück an den Rand gedrängt: Barbara Melzl), gibt das von sich, was man in solchen Lagen nun mal tun muß: das Schimpfen, das im Stück allerdings sonst nicht viel zu suchen hat.

Wo soviel geliebt und gelitten wird, da möchte man die Betroffenden gern unter sich lassen. Das geht einem im Laufe des Abends öfter mal so, obwohl Regisseur Matthias Hartmann eine geradezu mustergültige Inszenierung hingelegt hat. Die Uraufführung könnte näher am Text wohl kaum sein. Hartmann kann über zwei Stunden lang seine Dankbarkeit erweisen, der Wunschregisseur von Botho Strauß gewesen zu sein. Das Schauspiel-Ensemble gibt sich bis in die kleinste Rolle hinein gebannt vom Überschwang der Emotionen. Selbst der Humor und Strauß’ kokette Selbstironie werden fast elegisch über die Rampe gebracht.

Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann zeigt sich zudem von seiner besten Seite, die ihn gleichsam auch noch als Filmarchitekten weiterempfehlen würde. Stets wechseln sich Hell und Dunkel im Beziehungsgeflecht ab. Und sich ineinander verschiebende Wände mit Szenenüberschriften geben denn auch noch ein dankbares Intermezzo für den Zwischenapplaus des verständnisinnigen Publikums ab. Für die Technik, die Herrmanns Bühnenkunst verlangt, braucht es dann eben doch einen Apparat wie den des Schauspielhauses.

Wenn es dann neben der Literatur auch noch in Teilen etwas theatertauglicher wäre, griffe es noch mehr ans Herz. Aber das bleibt über weite Strecken nur Wunsch, und der Rest des süßen Verschmelzens der Hoffnungen der Menschen und sämtlicher Szenen zu einem erfreulichen Ganzen bleibt wilde Sehnsucht des Zuschauers. Aber wie Loriot schon mal sagte: Mann und Frau passen einfach nicht zusammen, und so funkt es auch nicht in Strauß’ Bestandsaufnahme dieser Mesalliance.


 
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