© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Reformen: Das Versagen der Regierung bei den sozialversicherungsfreien Beschäftigungen
Die "620-Mark-Falle" beseitigen
Hagen Amelung

Es muß etwas geschehen, aber es darf sich nichts ändern: Frei nach diesem Motto hat die neue Linksregierung bereits nach wenigen Wochen bei den sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnissen und der Gesamtproblematik der geringqualifizierten Arbeitnehmer ein heilloses Durcheinander hinterlassen. Schröder entschloß sich, den Gordischen Knoten durch einen "Befreiungsschlag" zu lösen. Für seine Partei und die ökolinken Bündnisgrünen erschien es eher als das, was es war: ein unabgestimmter Alleingang, der das Verhältnis nicht unwesentlich belastet. Daß am Ende nichts wirklich verändert wurde, ist hinreichend diskutiert worden: Die Sozialversicherung soll erhoben werden. Im Gegenzug fällt die Pauschalbesteuerung weg. Die Unausgegorenheit der Regelung zeigt sich bereits darin, daß sie erhebliche verfassungsrechtliche Probleme aufwirft. Es ist schwerlich mit dem Eigentumsschutz des Artikel 14 Grundgesetz vereinbar, der auch Forderungen gegen den Staat schützt, wenn sie auf eigenen (Beitrags-)Leistungen beruhen, daß einer Beitragspflicht keine Versicherungsleistung gegenübersteht. Die Reform ist aber vor allem deswegen schon vor ihrem Inkrafttreten inhaltlich gescheitert, weil man nicht hinreichend über die Ziele nachgedacht hat. Und sie übersieht, daß die 620-Mark-Regelung nur ein Teilstück der Problematik der hohen Beschäftigungslosigkeit Geringqualifizierter ist. Was aber sind die Interessen der Beteiligten? Auf Seiten der Arbeitgeber ist es das Bedürfnis nach flexiblen und kostengünstigen Arbeitskräften für gering qualifizierte Arbeiten.

Neue Zwangsmitglieder für die Sozialversicherung

Beim Staat ist die Ziellage schon vielschichtiger. Einerseits das fiskalische Interesse an Steuereinnahmen, wobei mitschwingt, den illigalen Arbeitsmarkt einzuschränken. Weiterhin das gesamtwirtschaftliche Interesse, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Weiterhin das Interesse, den Sozialversicherungen weiter Zwangsmitglieder zu gewinnen, wobei in Kauf genommen wird, daß die Versicherungsleistungen bei Rente und Arbeitslosigkeit ohnehin kaum die Sozialhilfehöhe erreichen würden, bzw. die Leistung von vorneherein gar nicht eingeplant wird (Schröder-Modell).

Schließlich das Interesse der Arbeitnehmer. Hier muß man klar unterscheiden zwischen denen, die ohnehin sozialversicherungsmäßig abgesichert sind (Studenten, Rentner und solche, die über den Ehepartner abgesichert sind) und solchen, die sonst gar kein Einkommen hätten. Die erste Gruppe hat definifiv kein Interesse an Versicherungsabgaben, da damit keine zusätzliche Absicherung verbunden ist. Für die zweite Gruppe der Arbeitnehmer, im großen und ganzen Geringqualifizierte Arbeitnehmer, sieht dies, insbesondere bezüglich Krankenversicherung, schon ganz anders aus. Ihr Hauptinteresse aber ist der Zugang zum Arbeitsmarkt überhaupt. Ein großes Problem der alten und neuen Regelung ist aber für beide Gruppen die "620-Mark-Falle". Mehr zu verdienen lohnt sich erst ab einem deutlich höheren Betrag, da ansonsten die Abgabenhöhe den Zusatzverdienst in das Gegenteil verkehrt. Welche Lösung bietet sich an?

1. Steuerpflicht ab der ersten verdienten Mark. Der Steuersatz steigt linear oder progressiv an, so daß es nicht zu der Verwerfung an der 620-Mark-Grenze kommt. Der Steuersatz sollte sehr niedrig ansetzen, vielleicht fünf Prozent im Eingangssatz bis zum heutigen Eingangssteuersatz (19 Prozent) hin steigend. Ob die Steuer dann wirklich zu zahlen ist oder durch Freibeträge faktisch auf Null sinkt, ist eine andere Frage. Insofern kann auch die verfassungsrechtlich geforderte Freistellung des Existenzminimums erreicht werden.

2. Von der Sozialversicherungspflicht werden nur diejenigen freigestellt, die anderweitig mitversichert sind. Hierfür muß eine Gesamtverdienst-Obergrenze bleiben, bzw. geschaffen werden. Für diese Tätigkeiten haben diese Personenkreise einen Vorteil am Arbeitsmarkt, der aber gesellschaftspolitisch erwünscht ist, da ihnen ein Zuverdienst möglich sein soll, sie aber nicht voll arbeiten können und sollen.

Denkbar wäre die Einführung einer Quote

3. Ist dieses Angebot an Arbeitskräften ausgeschöpft, werden die Arbeitgeber auf sozialversicherunspflichtige Arbeitnehmer zurückgreifen. Angesichts der derzeitigen Lage auf dem Arbeitsmarkt sind hier Quotensysteme denkbar. Diese Quote könnte sich an der Arbeitnehmerzahl oder der Stundenzahl orientieren. Die Notwendigkeit der Quoten ergibt sich daraus, den gewollten Vorteil der sozialversicherungsfreien Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt für gering Qualifizierte angemessen einzuschränken. Andernfalls käme es zu einer arbeitsmarktpolitisch unerwünschten Verdrängung von Geringqualifizierter. Die "Reformdiskussion" über dieses Einzelproblem sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei einem Arbeitsmarkt mit (faktisch) offenen Grenzen immer ein Arbeitskräfteüberangebot, sprich Arbeitslosigkeit, insbesondere bei wenig Qualifizierten bestehen wird.

Die gängige Redensweise, daß Ausländerpolitik (also die Entscheidung, wer zu welchem Zweck ins Land kommen kann) und Arbeitslosigkeit nichts miteinander zu tun hätten, erweist sich bei näherem Hinsehen als nichts anderes als ein Vorurteil. Der nicht hinreichend eingeschränkte legale und illegale Zuzug von nichtdeutschen Arbeitskräften ist neben den strukturellen Problemen ein wesentlicher Grund dafür, daß die hohe Arbeitslosigkeit im Bereich der geringer Qualifizierten nicht abgebaut werden kann. Eine bloße Reform der 620-Mark-Regelung wird den wenig qualifizierten Arbeitssuchenden also nicht sehr viel weiter helfen. Aber auch sie haben den moralischen Anspruch gegenüber ihrer Gesellschaft, sich durch Arbeit selbst ernähren zu können. Der Nationalstaat beruht auf gegenseitiger Solidarität, die keine Gruppe aufkündigen darf, ohne die Gesellschaft zu revolutionieren.


 
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