© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Wissenschaft: Die Möglichkeiten der Gentechnik sind umstritten
Die Spirale des Lebens
Rüdiger Ruhnau

Kaum ein anderes Gebiet der Naturwissenschaften hat die Phantasie der Öffentlichkeit so stark erregt wie die Gentechnik. Mit ihrer Hilfe kann der Mensch durch gezielte Eingriffe die Erbsubstanz verändern. Im Grunde genommen etwas ganz ähnliches ist die seit altersher bekannte Pflanzen- und Tierzüchtung, nur erfolgt dort kein direkter Eingriff in die Erbsubstanz: die Höherentwicklung von Kulturpflanzen und Nutztieren wird mittels konsequenter Selektion erreicht. Im Unterschied zu früher ermöglichen es die heutigen Verfahren der Gentechnologie, die Selektion aktiv in eine bestimmte Richtung zu lenken und sie zu beschleunigen. Bisher waren Mutationen, hervorgerufen beispielsweise durch energiereiche Strahlung, die einzigen möglichen Ursachen der Änderung des genetischen Codes.

Seit einem knappen halben Jahrhundert ist der Wissenschaft die Funktion und der Aufbau eines Trägers der Erbinformationen bekannt. Der Amerikaner James Watson und sein Kollege Francis Crick veröffentlichten 1953 in der Zeitschrift Nature ein Strukturmodell des chemischen Aufbaus der Desoxyribonukleinsäure (DNS). Danach ähnelt die DNS einer spiralförmig gedrehten Strickleiter ("Spirale des Lebens"), auch Doppelhelix genannt.

Das Makromolekül der Doppelhelix liegt im Zellkern als Knäuel eines sehr langen Molekülfadens vor. Wie Perlen auf einer Kette sind die einzelnen Gene hintereinander aufgereiht, beim Menschen etwa 80.000. Ihr chemischer Aufbau ist erforscht. Jedes Gen sorgt in der Zelle für die Bildung eines bestimmten Proteins und ist somit jeweils für eine Erbeigenschaft verantwortlich. Die DNS-Doppelhelix mit ihren annähernd drei Milliarden Atomen enthält aufgrund der charakteristischen Abfolge bestimmter Molekülabschnitte die gesamte Erbinformation eines Individuums.

Die Analysen sollen helfen, Krankheiten zu bekämpfen

Der Steuerungsmechanismus, mit welchem die in den Genen gespeicherten Informationen in Proteine, die Hauptbestandteile lebender Zellen, übersetzt werden, funktioniert im Menschen genauso wie in Pflanzen oder in Bakterien, und das über Jahrmillionen hinweg, es sei denn, ein Mutationssprung hat stattgefunden.

In der Bundesrepublik wurde vor drei Jahren das deutsche Genforschungsprogramm in die Wege geleitet. Die Erforschung des menschlichen Genoms soll zu einer Gesamtsequenzierung des genetischen Materials führen. Anders ausgedrückt: Die Reihenfolge der 80.000 Gene einer DNS ist erst zum Teil bekannt, trotz Automatisierung des Präparations- und Leseverfahrens. Aber nicht nur das Humangenom wird systematisch erfaßt, auch die Gesamtsequenzierung bakterieller Genome ist bereits gelungen. Darüber hinaus werden bei Mäusen, Schweinen, Rindern sowie bei Pflanzenarten wie Reis und Mais die Genomanalysen vorangetrieben.

Die Genomanalyse soll darüber aufklären, welche Gene beispielsweise für eine bestimmte Erbkrankheit verantwortlich sind. Körperliche und geistige Merkmale, zum Beispiel die Intelligenz eines Menschen, werden nicht nur durch ein einziges Gen gesteuert, sondern durch eine Vielzahl. Ziel der Genomanalyse ist es, eine Art Landkarte aller Gene des Menschen aufzustellen, die es erlaubt, Krankheiten zu diagnostizieren oder Aussagen über den Gesundheitszustand über lange Lebenszeiträume hinweg zu machen. Ein Nachteil besteht gegenwärtig noch darin, daß die therapeutischen Möglichkeiten in keinem Verhältnis zu den neugewonnenen diagnostischen Fähigkeiten stehen.

Zwar ist auf dem Gebiet der Humangenomforschung in der Öffentlichkeit eine weitgehende Akzeptanz zu beobachten, diese ist aber deutlich geringer, wenn es um die praktische Anwendung der Ergebnisse aus der pflanzlichen Genomanalyse geht. Das Mißtrauen vieler Verbraucher gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln ist in Deutschland groß, es hat schon vielfach zur Zerstörung von Feldern geführt, auf denen gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden. Demgegenüber sind in den USA über zehn Prozent der Maisanbaufläche mit dem gentechnisch präparierten Bt-Mais bepflanzt. In der EU ist der Bt-Mais seit 1998 zugelassen, allerdings muß gentechnisch verändertes Saatgut auf der Verpackung als solches gekennzeichnet sein. Auch Lebensmittel aus derart verändertem Mais oder Soja müssen nach einer neuen EU-Verordnung kenntlich gemacht werden, damit der Verbraucher über die Verwendung selbst entscheiden kann.

Mais gehört zu den drei wichtigsten Getreidearten, jährlich werden weltweit rund 560 Millionen Tonnen geerntet. Um 40 Millionen Tonnen könnte die Maisernte jedoch höher ausfallen, wenn nicht Schädlinge und Pflanzenkrankheiten einen Teil vernichten würden. Statt nun chemische Pflanzenschutzmittel anzuwenden, kann der Maispflanze ein zusätzliches Gen eingesetzt werden, das dem natürlich vorkommenden Bodenbakterium Bacillus thuringiensis entstammt. Dieses Gen produziert ein Bt-Protein, das speziell auf Schädlinge einwirkt. Hauptschädling ist der Maiszünsler, ein unscheinbarer Schmetterling, dessen Larven sich in den Maisstengel einbohren. Starker Befall verursacht bis zu 40 Prozent Verluste. Für andere Lebewesen ist das Bt-Protein harmlos, es wird im Magen und Darm abgebaut.

Es drohen auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn

Auf mehr Zustimmung innerhalb der Bevölkerung stößt dagegen die gentechnische Herstellung von Arzneimitteln. Für Diabetiker ist Insulin ein lebensnotwendiges Medikament, es reguliert den Zuckergehalt des Blutes. Vor Entdeckung der Synthese gewann man das Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Schweinen und Rindern, die in Schlachthöfen gesammelt und tiefgekühlt zur Firma Hoechst nach Frankfurt am Main gebracht wurden. 1978 gelang es der US-Firma Gentech, das Humaninsulin auf gentechnischem Wege herzustellen. Da Deutschland auf diesem Gebiet noch in den Kinderschuhen steckte, zahlte die Hoechst AG den Amerikanern 50 Millionen Dollar und konnte dafür alle Erfahrungen in der genetischen Rekombination auswerten.

Insulin ist ein Eiweißmolekül, das aus 51 Aminosäuren besteht. Damit es von Bakterien produziert werden kann, muß diesen die entsprechende genetische Information eingebaut werden. Die gentechnische Arbeitsweise vollzieht sich in mehreren Schritten: Die Sequenzanalyse gestattet es, die relevanten Genabschnitte mittels Restriktionsenzymen "herauszuschneiden" und anschließend in ein Plasmid einzusetzen. Plasmide sind ringförmige DNS-Moleküle mit der Fähigkeit zur selbständigen Replikation, zum Beispiel in einer Zelle des E.-coli-Bakteriums. Mit der fremden Erbinformation sind die Mikroorganismen imstande, die gewünschten Proteine zu erzeugen. Die Vermehrung des genmanipulierten Bakteriums läuft in einem Zwei-Liter-Fermenter ab, dann folgt die Umsetzung in einem 60.000 Liter fassenden Fermenter unter Zusatz eines Milchzucker-Derivates. Das von den Bakterien produzierte Protein wird schließlich in reines Insulin umgewandelt.

Die Gewinnung von gentechnisch hergestellten Arzneimitteln wird weltweit in den verschiedensten Laboratorien praktiziert, die rund 20 Prozent der auf den Markt kommenden Medikamente liefern, darunter das Betaferon der Firma Schering gegen Multiple Sklerose.

Seit US-Präsident Clinton mit DNS-Vergleichstests Verfehlungen nachgewiesen werden konnten, ist der "genetische Finderabdruck" einer breiten Öffentlichkeit bekannt. In Deutschland löste die Untersuchung von 12.000 jungen Männern, die sich zur Aufklärung eines Sexualverbrechens einem Speicheltest unterzogen, eine breite Diskussion darüber aus, ob eine bundesweite Gendatei kommen soll.

Bei all diesen Leistungen der Gentechnik dürfen die möglichen Gefahren jedoch nicht verharmlost werden. Während US-amerikanische Forscher offen über eine Keimbahntherapie sprechen, lehnen deutsche Wissenschaftler einen Eingriff in die Keimzellen des Menschen ab. Wie lange allerdings der wissenschaftliche Fortschritt vor der selbsterrichteten Schranke, nicht in die Erbsubstanz des Menschen einzugreifen, halt machen wird, bleibt abzuwarten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen