© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Offener Brief: Horst Mahler schreibt an Ignatz Bubis
"Geben Sie Gedankenfreiheit"

Sehr geehrter Herr Bubis, Sie sind in Gefahr, mit Ihrem Wüten gegen Martin Walser und seine publizistischen Verteidiger alles das zu zerstören, wofür Sie streiten und mit Ihrer Person einstehen. Ich spüre die Gefahr, daß durch Ihre unglücklichen öffentlichen Äußerungen – insbesondere durch den unreflektierten Vorwurf des "Antisemitismus" – vorhandene antijüdische Ressentiments zu einer politikmächtigen Stimmung in unserem Lande aufgerührt werden.

Martin Walsers Paulskirchenrede ist das Selbstzeugnis eines sensiblen deutschen Schriftstellers. Ich will Walser nicht gegen den Vorwurf verteidigen, in seiner Rede würden antijüdische Töne anklingen.

Walser hat bekannt, daß in seinem Innersten widersprüchliche Gefühle und Gedanken im Streit liegen. Dafür sollten Sie ihm dankbar sein, denn Walser hat damit den Blick freigegeben auf die wahre Befindlichkeit der Deutschen. Zu dieser Befindlichkeit gehört als Grundkonstante das Entsetzen und die tiefe Scham über die Vernichtung der europäischen Juden, die wir uns als Volk zurechnen lassen müssen und für die wir Verantwortung tragen. Der über dieses Grauen empfundene Schock hat aber nicht die im christlichen Abendland tief verwurzelten antijüdischen Ressentiments zum Verschwinden gebracht. Dieser Schock hat uns nur den Mund verschlossen und uns zu Heuchlern gemacht.

Es ist gefährlich, das, was noch nicht verschwunden ist, nicht mehr zur Sprache zu bringen. Es wird so zu einer heimlichen Macht. Diese ist in ihren Konsequenzen unberechenbarer als ein im Tageslicht angreifender Feind.

Schon der Anspruch der Juden, das von Gott auserwählte Volk zu sein, ist notwendig begleitet von Ablehnung der Juden durch die anderen Völker, die sich nach der jüdischen Lehre als "nicht auserwählte" begreifen müssen. Darüber muß man frei reden dürfen.

Karl Marx, selbst Jude und Sproß einer Rabbinerfamilie, schrieb: "Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld."

Für Marx war die wahre Emanzipation der Juden "die Emanzipation der Menschheit vom Judentum". Und er kritisierte, daß sich der Jude unwahr, nämlich "auf jüdische Weise emanzipiert" habe, "nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist." Er faßt sich zusammen in dem Satz: "Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen Juden geworden sind." (MEW 1/373).

Als Atheist wollte Marx die "theologische Fassung" der jüdischen Frage brechen. Er suchte die Überwindung des Antijudaismus in der Überwindung des Privateigentums, also in der sozialistischen Gesellschaft. Diese setzte er mit der Auflösung des Judentums gleich.

Hitler transponierte die jüdische Frage zur Rassenfrage.

Die Wurzel beider Positionen ist der Gottestod, die rationalistische Aufklärung, die die Himmel leer gefegt hat.

Am Ende der Aufklärung ist die "theologische Fassung" wieder herzustellen und die Lösung des Problems philosophisch zu gewinnen. Ausgangspunkt könnte die Deutung des Judentums sein, wie sie Hegel in seiner Religionsphilosophie ausgearbeitet hat.

Dieses Werk kann nur von Juden und Christen, von Deutschen und Israelis gemeinsam vollbracht werden. Es wird in seiner Bedeutung eine zweite Reformation sein.

Sir, geben Sie Gedankenfreiheit!

Ihr

Horst Mahler


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen