© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/98  27. November 1998

 
 
Macht und Geist: Die "neue Mitte" sucht nach Integrationsfiguren
Intellektuelle bitte melden!
Andrzej Madela

Während das deutsche Feuilleton zu einer Forschungsreise in die neue Mitte rüstet, legt diese noch eben mal schnell eine doppelte Verwandlung hin. Die äußere ist buchstäblich mit Händen zu greifen: da fliegen Turnschuhe und Parka in den DRK-Container und erweisen so einem staatstragenden Armani-Zwirn mit Weste ihre Reverenz. Bei der inneren dürfte eine leicht vereinfachte Formel hilfreich sein, den Wandel auf Anhieb zu markieren. Sie lautet: Alle Brüder werden Menschen.

Der Verzicht aufs ausgelatschte Schuhwerk und die Preisgabe Schillerscher Utopie – sie gehören untrennbar in die neue Mitte. Man schließt seinen Frieden mit der Alltagsästhetik des spätbürgerlichen Zeitalters, kehrt das pathetische Geschwurbel von gestern unter den Teppich und hält emsig Ausschau nach einem Intellektuellen, der diesen Bruch seinen Leuten als Kontinuität verkauft. Denn der Mann für die neue Mitte ist echte Mangelware und nicht einmal durch den omnipräsenten Michael Naumann zu ersetzen.

In erhellender Weise verdeutlicht denn auch die Zeit-Serie über Kulturaussichten der "Berliner Republik" die Gefahr, die neue Macht könnte bald ohne intellektuelle Verbündete dastehen. Während aber Klaus Harpprecht und Friedrich Delius noch ihre Urängste vor einem gedächtnisschwachen Deutschland offenbaren, sieht Richard Herzinger das Problem erheblich differenzierter. Aus seiner Freude über das Ende der Bonner Verschnarchtheit spricht die Erkenntnis, daß der 27. September zwar einen politischen, wohl aber keinen intellektuellen Sieger gekürt habe.

Das war schon mal anders. Die fünfziger Jahre hatten ihren Gehlen und Schelsky, Intellektuelle der entschwundenen Mitte sozusagen und mit ihrer frühen Verstrickung ins Dritte Reich, dem späteren Antikommunismus und dem rationalen Lob einer Industriegesellschaft ein echtes Trostpflaster für die versöhnungsbedürftigen Seelen des Wiederaufbaus zwischen verlorenem Krieg und deutscher Diaspora. In den sechziger Jahren war wiederum das Wundenaufreißen angesagt, eine Roßkur, für das vernachlässigte Langzeitgedächtnis der Gründerväter inklusive. Mit bürgerlichen Lebensvorstellungen hatten Marcuse und Adorno wenig am Hut, die Zeiten waren rebellisch, die "Strukturen" voller Entfremdung und Gedichte über Bäume nicht möglich. Ganz anders die Siebziger: Karl Popper empfahl seinen Lesern durchrationalisierte Bildungstradition und wehrhafte Demokratie. Adorno mit seiner exaltierten Entfremdungstheorie fand er unerträglich und die APO-Nachwehen geradezu lächerlich. Mit seiner Ablehnung von Ideologiedebatten und der Vorliebe für anglo-amerikanischen Pragmatismus war er ein einmaliges Pendant zu dem immer aufs Praktische und Machbare ausgerichteten Helmut Schmidt.

Dieses Traumduo von Geist und Macht fand in den Achtzigern bezeichnenderweise keine Nachfolger. Seit Bitburg ist überdies der Posten eines Chefintellektuellen für geistig-moralische Wenden vakant. Seitdem muß die Politik symbolbildende Lasten ohne intellektuelle Hilfestellung schultern. Der bedeutendste Kopf dieser Zeit läßt denn auch klassische Politik rechts liegen und empfiehlt vollwertigen Ersatz: kommunikatives Handeln und Basisdemokratie, Konsensbildung und Postnationalität. Über 16 Jahre etabliert Jürgen Habermas ein ungeschriebenes Etwas der Machtferne.

Es ist der Sog dieses sehr deutschen Etwas, der Richard Herzinger befürchten läßt, das Schicksal der alten könte bald auch die neue Mitte ereilen und so einen glanzvollen Aufbruch in die Langweile und Ermattung der späten Kohl-Jahre verkehren. Denn der intellektuelle Sieger der Bundestagswahl ist ein vielgesuchtes Phantom. Bei den Enthusiasten wird er genausowenig zu finden sein wie bei den Nicaragua-Träumern um Thomas Schmidt – beide können sich mit Schröders sprödem Pragmatismus und gänzlich unspektakulärer Nüchternheit nicht anfreunden. Dem deutlich gealterten Jürgen Habermas widersprach der künftige Kanzler direkt, als jener ihn eine Woche vor der Wahl aufgefordert hatte, von Berlin aus den Weg in eine postnationale Realität zu beschreiten. Aber auch die Apostel von "Multikulturalität", darunter Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, stehen nach den Koalitionsverhandlungen nicht gerade in Siegerpose da. So stößt der liberale Kulturtraum paradoxerweise gerade am 27. September an seine Grenzen – und legt die Ängste seiner Verfechter frei.

Dabei ist die neue Macht darauf angewiesen, ihren Führungsanspruch auch intellektuell zu untermauern. Dies weniger aus dem Willen zum sinnfälligen Kontrast mit jüngster Vergangenheit; eher schon ist anzunehmen, daß der Wahlkampf die – unverhoffte – Erkenntnis lieferte, welche ungeheuer sinnstiftende Leistung Kultur vollbringt, ist einmal ein wirklicher Könner am Werk. Hinter der fieberhaften Suche nach einer intellektuellen Integrationsfigur steht aber auch eine gehörige Portion Angst, der groß angekündigte Wechsel würde Fragment bleiben, wenn es nicht gelingt, erstklassige Köpfe dafür zu gewinnen.

Ja, aber welche? Günter Grass steht mit der neuen Mitte nicht erst seit gestern auf Kriegsfuß, Jürgen Habermas durfte sich in Berlin seine Abfuhr holen, und SPD-Urgestein Peter Glotz ist mit der Osterweiterung der NATO nicht d’accord. So macht der politische Wechsel auch einen intellektuellen notwendig. Die alten liberalen Eliten sind ausgelaugt, ihr Mißrauen gegenüber Deutschland reizlos und die postnationalen Wünsche verbraucht.

Unerwartet schlägt nun die Stunde für Köpfe, denen Moderne und Nation als zwar spannungsreiche, nicht aber gegensätzliche Realitäten erscheinen. In der sozialdemokratischen Vorzeige-Zeitschrift Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte wird des neumittigen Wunschtraumes hektisches Phantombild gepuzzelt, dessen Einzelteile dennoch Beachtung verdienen. Gesucht wird eine Integrationsfigur: in ihren intellektuellen Grundzügen unverkennbar deutsch, aber weltoffen; liberal, aber von einer wehrhaften Demokratie überzeigt; pro-atlantisch, aber an Osteuropa interessiert; modernitätsfreundlich, aber grundsätzlich bürgerlich verankert. Wer ist es? Fest steht zunächst, daß der politische Wechsel zwei weitverbreitete Typen deutscher Intellektualiät definitiv als Integrationsfiguren ausschließt: den universal gebildeten Hochschullehrer mit postnationalem Steckenpferd und den sperrigen Eigenbrötler mit der Neigung zum tiefgründelnden Bocksgesang.

Einer eklatanten Entwertung anheim fällt der Typus eines engagierten Intellektuellen à la Gremliza, dem das Objekt seiner innigsten Haßliebe abhanden kommt, während Prestige und Einfluß verkümmern. Ebenfalls eindeutiger Verlierer des Wechsels ist der Politikästhet vom Schlage eines Heimo Schwilk, der sein Unbehagen an der Bonner Republik mit deren Mangel an erweckungsreichen Massenerlebnissen begründet.

Schlägt nun die Stunde für Ralf Dahrendorf? Für ihn spricht auf einmal vieles, seine Leistung als Soziologe selbstverständlich eingeschlossen. Entscheidend dürfte aber der praktische Bezug seiner Arbeiten sein, das stete Changieren zwischen Lehre und Praxis, das auch durch seinen persönlichen Lebensweg beglaubigt wird. Pragmatismus und ein gesunder Schuß Mißtrauen in die Leistung der eigenen Zunft – sie sind ein beziehungsreiches Spiegelbild der kulturell verunsicherten, aber harmoniebedürftigen neuen Mitte, die sich nicht ungelenk in Nüchternheit und Realismus übt. Beiden scheint eine tiefsitzende Abneigung gegen hochfliegende, aber völlig weltfremde Theorien eingewurzelt.

Mit dem Hinweis auf Dahrendorf – den Wissenschaftler und hochrangigen EU-Beamten – erledigt sich gleichzeitig die wohlgehütete liberale Legende vom ewigen Gegensatz zwischen Geist und Macht. Schließlich liefert sein Fach selbst Versöhnung pur. Es teilt mit den modernen Naturwissenschaften die Präzision der Meßtechniken und das ausgefeilte Regelwerk der Gegenstandsbeschreibung. Gleichzeitig begreift es den Menschen als historisches Wesen und erforscht seine Wertebildung. Dem Fach wie dem Praxisbezug nach ist Dahrendorf ein enger Verwandter von Karl Popper, dem Vorzeigeintellektuellen nach dem Gusto von Helmut Schmidt, auf dessen Realitätssinn und Praxis die Umgebung des neuen Kanzlers beziehungsreich anspielt.

Die neue Mitte installiert ihren eigegen Intellektuellen, dem sie auch das Recht auf Zerstörung liebgewordener Mythen einräumt. Ein erster Feldversuch läuft bereits seit über einem Jahr im "Magazin", der Wochenendbeilage der Berliner Zeitung, die um Jens Jessen, Gustav Seibt, Thomas Leinkauf und Michael Mönninger gruppiert ist und Ausgabe für Ausgabe liberale Legenden ins Archiv des Vergessens verabschiedet.

Diese Volksausgabe eines Intellektuellen der neuen Mitte gibt sich erfreulich unaufgeregt. Ihr Weltbild ist scharf konturiert, gleichwohl feindlos, der Schreibimpuls wirkt aufgeklärt, aber nicht aufklärerisch. Das Interesse gilt eher den kleinen Dingen des Lebens, dem Alltag schlechthin, aus dem man erst in emsiger Kleinarbeit größere Zusammenhänge herauspräperiert: unverkennbar die Schule von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer. Eine modernitätsfreundliche, trotzdem verhalten skeptische Sicht aufs Leben beherrscht die Darstellung. Die Dinge werfen keine ideologischen Schatten; sie sind, indem sie funktionieren. Mit Dahrendorf eint sie die Erkenntnis, daß der Epochenbruch von 1989/90 den eigentlichen Abschluß eines totalitären Zeitalters gebracht hat. Im Gegensatz zu ihm meinen sie, die Zäsur gelte auch für die 68er. Sie halten deren Projekt für unabgeschlossen; deutlicher als er geben sie aber zu verstehen, der Abschluß sei auch gar nicht wünschenswert.

Letzteres ist von eminentem Seltenheitswert, zumal sich Seibt und Jessen sehr wohl in der kritischen Tradition der 60er Jahre begreifen und besonders die Frühphase der APO-Bewegung mit ihrer Theoriebildung gutheißen. Der Enzensberger und der Walser der 60er Jahre sind für sie immer noch Bezugsgrößen. Um so auffälliger dann die Distanzierung vom ausgelaugten Ende des Projekts, dem sie keine Lebensfähigkeit mehr bescheinigen. Ihr Verhältnis zu den älteren Brüdern, den 68ern, ist ambivalent; Wehmut mischt sich da mit Freude über den Aufbruch eines Projekts, das sich so eindeutig in Kommerz und Wohlgefallen aufgelöst hat. Sein Ende sei eine Wohltat, doch ein Neuanfang tue not, freilich unter ideologiefreien Vorzeichen.

Der neumittige Intellektuelle klagt hier ein Projekt radikaler Erneuerung ein, das im Wahlkampf nur kurz aufblitzte und schon wenige Tage danach in der Versenkung verschwand. Im Gegensatz zur neuen Regierung, die sich bereits kurze Zeit nach ihrem Wahlsieg von der eigenen Innovationsidee verabschiedet, bleibt er am Ball. Das lohnt die Lektüre doppelt – auch wenn Herzinger recht behalten sollte.


 
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