© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/98  27. November 1998

 
 
Ausländerpolitik: Faruk Sen über Einwanderung, Integration und doppelte Staatsbürgerschaft
"Viele wollen raus aus den Ghettos"
Thorsten Thaler / Dieter Stein

Herr Professor Sen, Innenminister Otto Schily hat sich gegen einen weiteren Zuzug von Ausländern nach Deutschland ausgesprochen. Die Grenze der Aufnahmefähigkeit sei nicht nur erreicht, sondern bereits überschritten. Wie kommentieren Sie das?

Sen: Die Regierung plant im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts bereits große Fortschritte und entsprechende Gesetze, wonach viele Migranten, die schon länger hier leben, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können. Endlich geht man auch vom Rassenprinzip ansatzweise zum Territorialprinzip über. Vielleicht ist es deshalb auch Zeit, darüber nachzudenken, daß man den Schwerpunkt auf die Integration hier lebenden Ausländer legt. Neue Zuzüge stehen im Grunde gar nicht zur Diskussion. Es gibt natürlich eine Zuwanderung durch Heiratsmigration. Manche Migranten nehmen ihre Ehepartner nach wie vor aus ihrem Heimatland – besonders Türken.

Die Justizministerin Däubler-Gmelin sagt ausdrücklich, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Stimmen Sie dem zu?

Sen: Es kommt darauf an, was man unter einem Einwanderungsland versteht. Deutschland ist bereits ein Einwanderungsland geworden. Deswegen bereitet man auch das neue Staatsangehörigkeitsrecht vor, nachdem man den Migranten, deren Status bislang unklar war, nun die Möglichkeit bietet, sich leichter einbürgern zu lassen. Indem man dieses Gesetz verabschiedet, definiert man Deutschland zum Einwanderungsland. Ob man zusätzlich zu den 7 Millionen noch nach einer Quotenregelung zusätzliche Ausländer hereinläßt, das kann bei den derzeitigen Bedingungen nicht zur Diskussion stehen.

Leistet die doppelte Staatsbürgerschaft überhaupt einen Beitrag zur Integration von Ausländern?

Sen: Die meisten Ausländer sind bereits seit über acht bis 15 Jahren in Deutschland. Sie haben die Normen der Industriegesellschaft voll übernommen und leben auch nach diesen Normen. Wenn man ihnen die richtige Sicherheit anbietet, daß sie hier auch als Bürger dieses Staates anerkannt werden, dann bin ich mir sicher, daß diese Migranten, die die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, sich voll solidarisch mit diesem Land verhalten und ihre Loyalität diesem Staat gegenüber zeigen.

Was ändert der deutsche Paß in sozialer Hinsicht?

Sen: Er bietet rechtliche Sicherheit und juristische Gleichstellung. Die Türken oder Bosnier, die jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit nehmen werden, werden nun genauso behandelt wie die Deutschen oder EU-Bürger. Zusätzlich erhalten sie das Recht, sich politisch zu betätigen und mitzuentscheiden. Sie werden sich für die Parteien oder Bewegungen engagieren, die ihnen eine bessere Perspektive verheißen. Dadurch wird die Identität sehr stark zunehmen, da sie sich am gesellschaftspolitischen Geschehen beteiligen können.

Welche Voraussetzungen muß denn Ihrer Meinung nach ein Ausländer mitbringen, damit die Integration gelingt?

Sen: Er sollte sich mit dem Land voll identifizieren, in dem er lebt, und in dem seine Kinder groß werden. Er sollte Deutschland als Heimatland sehen! Er soll sich um die Sprache bemühen und sie beherrschen, und er soll auch für die Zukunft Deutschlands sein Bestes geben. Das haben die meisten Ausländer auch ohne die deutsche Staatsangehörigkeit gemacht. Sie haben sich dennoch auch wegen rechtsradikaler Angriffe unsicher gefühlt. Der Paß wird ihnen zumindest jetzt Rechtssicherheit geben. Das ist sicher nicht alles und wird vor rassistischen Angriffen und Diskriminierung nicht schützen. Die neue Regierung zeigt aber, daß man sie als zukünftige Bürger dieses Staates sieht.

Viele ältere Ausländer, die schon jetzt die Voraussetzung zur Einbürgerung nach den alten Gesetzen erfüllen, lassen sich aber nicht einbürgern. Wie ist das zu erklären?

Sen: Viele ältere Menschen wollen, wenn sie noch verpflichtet sind, ihren alten Paß aus psychologischen Gründen nicht abgeben. Deutschland ist neben Österreich und Luxemburg eines der drei europäischen Länder, die für die Einbürgerung die Vorlage der Entlassungsurkunde aus der alten Staatsbürgerschaft verlangen. Mit dem Beschluß der Koalition wird dieser Schritt nicht mehr erforderlich sein. Ich bin mir deshalb sicher, daß mit der Verabschiedung des diesbezüglichen Gesetzes fast alle Türken von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden.

Worin sollen sich Ausländer integrieren? In eine Gesellschaft, in eine Wertegemeinschaft, reicht das Bekenntnis zum Grundgesetz?

Sen: Sie sollen sich zum Grundgesetz bekennen, sie sollen sich wirtschaftlich integrieren, sie sollen sich voll mit den deutschen Parteien identifizieren, sie sollen sich um Bildung bemühen und – ohne die eigene Religion oder Kultur aufzugeben – sich mit den Normen der Industriegesellschaft identifizieren.

Die Wertvorstellungen des Christentums und des Islams unterscheiden sich doch aber.

Sen: Denken Sie an Lessings "Nathan der Weise". Die drei Weltreligionen lassen sich miteinander vereinbaren und weichen nicht allzusehr voneinander ab. Jede Religion hat natürlich fundamentalistische Elemente, zum Glück sind diese – in jeder Hinsicht – in Deutschland schwach vertreten.

Wenden sich nicht gerade junge Türken wieder stärker traditionellen islamischen Wertvorstellungen zu?

Sen: Man muß zur Kenntnis nehmen: Nach Mölln und Solingen fühlten sich die Türken hier wegen zwei Eigenschaften diskriminiert – wegen ihrer türkischen und wegen ihrer islamischen Identität. Es gab nun zwei Möglichkeiten: Entweder distanzieren sie sich von ihrer Identität oder sie bekennen sich besonders entschieden dazu. Teilweise ist letzterer Schritt zustande gekommen. Kürzlich haben wir eine repräsentative Untersuchung bei den Türken durchgeführt, zu welcher Partei in der Türkei sie sich zugehörig fühlen: Nur 14 Prozent haben sich zu den Islamischen Fundamentalisten bekannt, also 86 Prozent der Türken sind zwar Moslems, tendieren aber nicht zu den Fundamentalisten. Nach unseren Schätzungen gehören nicht einmal ein Prozent der türkischen Wohnbevölkerung in Deutschland islamistischen Gruppierungen an.

Droht nicht der türkisch-kurdische Konflikt in Deutschland ausgetragen zu werden?

Sen: Seit 1983 führt die PKK als Terrororganisation mit der Waffe einen Kampf mit dem türkischen Militär. Die PKK hat in Deutschland viele Angriffe auf türkische Einrichtungen durchgeführt – bis jetzt haben wir aber kaum Auseinandersetzungen zwischen hier lebenden Türken und Kurden erlebt. Das zeigt, daß die meisten Türken und Kurden friedliche Leute sind, die sich nicht in diese politische Auseinandersetzung hineinziehen lassen wollen.

Wie soll der Ghetto-Bildung in den Großstädten begegnet werden?

Sen: Ich habe die feste Hoffnung, daß sich mit den neuen Gesetzen wesentlich mehr Türken an der deutschen Gesellschaft orientieren werden als bisher. Obwohl sich viele wünschen, aus den Ghettos herauszukommen, ist es bei dem derzeitigen Wohnungsangebot sehr schwierig, eine Wohnung zu finden. Daher kaufen viele Türken Wohnungen oder Häuser.

Verhindert die Abschottung in eigene Stadtteile dies nicht aber? Entstehen hier nicht teilweise Parallelgesellschaften?

Sen: Ich würde das nicht Parallelgesellschaft nennen. In der Industriegesellschaft leben auch die Deutschen nebeneinander. Ein friedliches Nebeneinander kann der Anfang sein und kann sich zu einem Zusammenleben entwickeln. Das Problem der Isolierung in Hochhäusern ist doch auch ein Problem der Deutschen untereinander! Ansonsten hat der Rückzug auf das Eigene bei den Türken halt immer auch etwas mit der Entwicklung seit Mölln und Solingen zu tun. Die Anschläge haben dafür gesorgt, daß sich viele zurückgezogen haben.

In Berlin kann man in den Stadtteilen, die einen hohen Ausländeranteil haben, beobachten, daß viele Deutsche, aber auch ältere Ausländer, die sich integrieren wollen, abwandern, weil sie die Ghettobildung nicht ertragen.

Sen: Klar. Jeder Ausländer, der es sich leisten kann, verläßt diese Ghettos. Auch im Ruhrgebiet stellen wir diesen Trend fest.

Noch einmal zum Islam: In Duisburg gab es große Auseinandersetzungen um den Muezzinruf, in Berlin um den Islam-Unterricht an deutschen Schulen.

Sen: In Duisburg haben wir erlebt, daß ein fundamentalistischer evangelischer Pfarrer mit allen Mitteln dagegen gekämpft hat, daß eine islamische Gemeinde einmal in der Woche freitags den Muezzinruf erklingen läßt. Die Türken haben aufgrund dieses Drucks ihren Antrag zurückgezogen. Wenn 2,7 Millionen Moslems in Deutschland leben, sollte man sich überlegen, ob man sich diesen Muezzin-Ruf nicht einmal in der Woche in einigen Stadtteilen leisten könnte.

Beim Religionsunterricht bin ich für die Unterrichtung des Islam. Aber: Er sollte in keinem Fall von den Islamischen Gemeinschaften und Organisationen erteilt werden. Es sollte ein Curriculum entwickelt werden von deutschen, türkischen und anderen muslimischen Wissenschaftlern und Vertretern dieser Gruppen, nicht aber von fundamentalistischen Vereinen. Nach diesem Curriculum sollte auch das Studium von Islamwissenschaften in Deutschland zugelassen werden. Ich sehe nicht ein, daß moslemische Kinder von bestimmten radikalen islamischen Gruppierungen indoktriniert werden können.

Zurück zur Einwanderung: Viele ältere Türken teilen nach Umfragen die Auffassung von Schily, daß die Einwanderung erschöpft ist.

Sen: Richtig. Eine geregelte Zuwanderung durch Heirat findet statt und sollte weiterhin stattfinden können. Lediglich die darüber hinausgehende Zuwanderung sollte beschränkt werden. Das halte ich für legitim.

Prof. Dr. Faruk Sen
geboren 1948, ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und lebt seit 1971 in Deutschland. Er studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster und promovierte über die "Türkischen Arbeitnehmergesellschaften". Mehrjährige Erfahrung in der Ausländerforschung und in Türkeifragen, zahlreiche Veröffentlichungen auf diesen Gebieten. Tätigkeit an der Universität Duisburg und gleichzeitig Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Seit Oktober 1985 leitet er das "Zentrum für Türkeistudien" in Bonn bzw. Essen. Seit 1990 ist er Professor an der Gesamthochschule-Universität Essen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen