© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Pankraz,
Horst Buchholz und der Tanz der kultigen Kultis

Gut, besser, kultig – so markieren heute viele smarte Film- oder Musikkritiker die Skala ihrer Wertschätzung. In einen "Kultfilm", ob "Casablanca"oder "Feuerzangenbowle", geht man immer wieder rein, auch wenn man ihn schon in- und auswendig kennt und die Sache einem längst zum Halse heraushängen müßte. Daß ein Sänger, Schauspieler oder Regisseur zur "Kultfigur" aufsteigt, bezeichnet die absolute Höhe seines Ruhms. "Kultfigur" ist mehr als "Star", auch mehr als "Superstar" oder "Megastar". Eine "Kultfigur" braucht sich nicht die geringste Mühe mehr zu geben, um Beifall zu finden, um angebetet zu werden. Sie braucht nur noch "da" zu sein, pure Präsenz genügt.

Freilich laufen mittlerweile so viele Kultfiguren herum, daß man ein bißchen nachdenklich wird. Das Kultgebaren fragmentiert sich zusehends, die Kultgemeinden werden immer kleiner und schotten sich gegenseitig ab. Man muß ausführlich in einen Kult eingeweiht sein, um ihn überhaupt mitzukriegen, um das Brio der jeweiligen Kultfigur zu erspüren. Auch werden die Verfallzeiten der einzelnen Kulte immer kürzer. Was heute noch Kult ist, kann morgen schon im See des Vergessens verschwunden sein.

Wahrscheinlich hat das damit zu tun, daß nichts mehr lange unter sich bleibt, daß nichts mehr geheim bleibt. Kaum ist etwas aus der Taufe gehoben, schon wird irgendwo darüber berichtet, wird es breitgetreten und niedergeredet. Der Kult lebt vom Tabu, man zelebriert ihn, aber redet nicht über ihn. Wird einer zur Kultfigur ausgerufen, so ist es, genau besehen, schon um seinen Kultstatus geschehen. Er ist schon auf dem absteigenden Ast.

Warum haben die Mysterienkulte der Antike Jahrhunderte überdauert? Weil die Teilnehmer nicht darüber redeten, weder über die Rituale noch über die Kultfigur, die im Mittelpunkt stand. Was ihnen am teuersten war, darüber machten sie nur vage Andeutungen, und Bilder von der gemeinten Sache gab es gleich gar nicht. Denn was im Bild erscheint, das gehört allen und deshalb faktisch keinem, es wird zum Fetisch, mit dem man sich nicht mehr voll identifizieren kann.

Um Identifizierung und Fetisch-Produktion geht es letztlich auch im Kultbetrieb der modernen Pop- und Jugendkultur. Der Jugendstamm, die Straßengang, die etwas als "kultig" entdeckt und sich mit ihm identifiziert , ist auf Abgrenzung, auf Unterscheidung und Für-sich-haben-wollen aus. Kommt dann ein Medienvertreter oder Sozialarbeiter und macht den Kultgegenstand öffentlich, so entsteht aus dem ein Fetisch, der vielleicht eine Weile noch als Feldzeichen beim Stammeskampf um "befreite Zonen" genutzt werden kann, dessen Integrationskraft aber schon einen Knacks bekommen hat. Das Mediengelaber über "Kulte", "Kultfiguren" und "kultige Events" ist der Tod jedes echten Kultes.

Hier liegt auch der Grund für die Unzulänglichkeit jeglicher "Sozialarbeit vor Ort". Der Sozialarbeiter, der einer unbequemen, öffentlich anstößigen Jugendgang, wie er es in seinem Psychologiestudium gelernt hat, "alternative Identifikations-Angebote" unterbreitet, zerstört gerade das, was er zu befestigen glaubt: das Identitätsbewußtsein seiner Erziehungsobjekte. Er möchte diese ja so gern verstehen und in der Öffentlichkeit um Verständnis für sie werben, aber der Punkt ist der, daß die Objekte gar nicht verstanden werden wollen, daß ihr Nichtverstandenwerden die Basis ihres Selbstbewußtseins ist.

Filme mit James Dean haben diese Konstellation bereits in der Frühzeit der praktischen Sozialpsychologie genau dokumentiert. Und daß die Coca-Cola-Klamotte "Eins, zwei, drei" von Billy Wilder mit James Cagney zum Kultfilm Nummer eins aufsteigen konnte, lag eben daran, daß der dort von Horst Buchholz gespielte Jungkommunist Otto Piffl bis fast ganz zuletzt eine derartige Begriffsstutzigkeit gegenüber allen noch so gutgemeinten Sozialisationsangeboten vordemonstrierte, daß jeder Streetfighter darob tiefste Befriedigung empfinden muß.

Es gibt ein Stadium oder wenigstens einen Punkt der Adoleszenz, in dem sich der betroffene Jüngling (oder der betroffene Straßenstamm) jede, aber auch wirklich jede Einmischung der Erwachsenenwelt in sein Inneres strikt verbittet. Und das ist just das Stadium, aus dem die Kulte, die Kultfiguren und die Kultmelodien erwachsen. Wer zur Kultfigur oder was zur Kultmelodie erkürt wird, ist völlig unvorhersehbar. Man kann sicher sein, daß die von der Film- und Phonoindustrie oder von den Medien dazu Deklarierten es gerade nicht sind.

Meistens handelt es sich bei den wahren "Kultis" um Gestalten und Phänomene, die (scheinbar) in scharfer Opposition zum lebensweltlich Gebotenem stehen, doch gute Psychologen sollten sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Das Falscheste (und im Zeitalter des Jugendkults und der Geschäftemacherei nur allzu oft Exekutierte) wäre, die eigenen Standards kultig aufzuweichen, sie selber zu Kultfiguren zurechtzuschminken. Damit kann man sich nur lächerlich machen.

Die Teilnehmer von Kulten sind sich in der Regel der Begrenztheit und Regionalität ihrer Spezialrituale sehr wohl bewußt und beobachten genau, wie die große Öffentlichkeit sich verhält, ob sie selbstbewußt, charakterstark und souverän in sich ruht oder ob sie es nötig hat, daß man ihr einen Schubs gibt und sie ihrerseits in einen bloßen Kult verwandelt. Je nach dem Resultat der Beobachtung ziehen sie für sich Konsequenzen.

Die Mysterienkulte der Antike konnten den herrschenden Göttern, Mythen und Kulturpraktiken nie gefährlich werden, stützten sie vielmehr. Erst als das römische Weltreich so marode und kleinlaut geworden war, daß von herrschenden Kulturpraktiken beim besten Willen nicht mehr die Rede sein konnte, änderte sich das, und die Kulte gewannen die Oberhand: der Mithraskult, der Christuskult. Das war dann das Ende der damaligen Kultur.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen