© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/98  06. November 1998

 
 
Ausstellung: Der Ulmer Kunstverein zeigt das graphische Werk von E. W. Nay
Mathematisch-präzise Prozesse
Frank Philip

Als wandlungsreicher Künstler kam der Maler Ernst Wilhelm Nay im Nachkriegsdeutschland zu Ruhm. Er war der Meister der Farbe und der rhythmischen Form. Der Ulmer Kunstverein zeigt nun das druckgraphische Werk von Nay, eine Auswahl von fünfzig Blättern gibt einen Überblick über alle wichtigen Schaffensperioden, wobei die Ausstellungskuratoren vor allem die Graphikserien mit kleinen Auflagen ausgewählt haben, die häufig eine neue Wendung im künstlerischen Schaffen des Künstlers vorbereitet oder eingeleitet haben.

Der 1902 in Berlin geborene Nay trat nach dem Abitur und einer abgebrochenen Lehre 1925 in die Malerklasse Karl Hofers ein, löste sich aber in den folgenden Jahren recht schnell vom konventionellen Malstil seiner Akademiezeit. Nach surrealistisch-abstrakten Versuchen brachte ihm 1937 eine dreimonatige Reise nach Norwegen, die ihm der Maler Ewald Munch ermöglicht hatte, die entscheidenden Anregungen. Die mythische Schwere der Landschaft der Lofoten-Inseln weckte die schöpferischen Kräfte in dem jungen Künstler, und im Anschluß entstanden Darstellungen der rauhen Küste und ihrer Fischer in expressivem Duktus, die sogenannten Lofoten-Bilder. Eine Serie von Holzschnitten in Ulm gehört, obwohl etwas früher an der Ostsee entstanden, in diesen Zusammenhang und verrät Nays Herkunft vom deutschen Expressionismus.

Ab 1936 von den Nazis als "entarteter Künstler" mit Ausstellungsverbot belegt, war Nay während des Krieges als Soldat im besetzten Frankreich. Ein kunstbegeisterter Förderer vermittelte Nay jedoch ab 1942 eine Stelle als Kartenzeichner, später hatte er gar ein kleines Atelier, so daß es ihm in begrenzten Umfang möglich war, auch weiterhin zu malen. In Le Mans besuchte Ernst Jünger den Künstler und äußerte in seinem Tagebuch "Strahlungen" über die eigenwilligen, farbintensiven Kompositionen: "Ich hatte von den Bildern den Eindruck von Laboriumsarbeit, von prometheischem Schaffen, das zu neuen Formen gerinnt."

Nach Kriegsende zog Nay nach Hofheim im Taunus. Das gegenständliche Element rückt in den Bildern der "Hekate-Zeit" (die Göttin Hekate steht für das Ungestüme, Leidenschaftliche dieser Periode) zunehmend in den Hintergrund. Zu Chiffren reduziert, dienten häufig wiederkehrende Andeutungen von menschlichen Körperteilen als bloße Verklammerung und Stabilisierung der rhythmisierten, stark bewegten Kompositionen. Die Farbe gewinnt Eigenständigkeit, verselbständigt sich gar. Nay führte die deutsche Kunst nach 1945 aus ihrer Sprachlosigkeit heraus, ohne dabei den "verhängnisvollen modernistischen Tendenzen zum Opfer zu fallen", wie sein Biograph Werner Haftmann betont. Den "fugalen" Bildern folgten die "rhythmischen", schließlich triumphierte Nay mit seinen neuartigen Scheibenbildern auf der ersten Documenta. Ein Ausspruch Nays verdeutlicht seine künstlerische Intention: "Meine Scheibenidee war vollkommen artistischer Natur. Ist der Komponist Tonsetzer, so wollte ich Farbsetzer sein mit den Mitteln der Farbe in Verbindung von Rhythmus, Quanten, Dynamik, Reihen zur Fläche." Auf der dritten Documenta 1963 überraschte und schockierte Nay das Publikum mit seinen großformatigen "Augenbildern", die an der Decke eines zentralen Raums hintereinander aufgehängt waren. Nay war auf dem Zenit seines Ruhmes angelangt, galt international als der bedeutendste deutsche Nachkriegskünstler. Dennoch hatte er nicht nur Freunde: Er wandte sich entschieden gegen den Egalitarismus der neu aufkommenden Kunstrichtungen, besonders gegen jene infantilen Entgleisungen der Pop-art, welche Kunst als Produkt für die Massen predigten, also endgültig profanieren und entzaubern wollten. Sein Urteil über die sogenannte engagierte Kunst fiel vernichtend aus: "Ein Künstler, der seine Kunst macht, um irgend etwas Menschliches-Außerkünstlerisches der Mitwelt mitzuteilen, flieht vor der Kunst (...). Flucht in die Umwelt statt Griff in die selbstentworfene Welt der eigenen formalen Äußerung. Also ist engagierte Kunst ein Unding. Kunst kann nicht politisch, sozialkritisch und ähnliches sein." Das war für manchen Kritiker Mitte der sechziger Jahre zu viel, und eine heftige Polemik setzte ein. Ein Blick in die Kataloge der großen Retrospektiven – zuletzt dieses Jahr in Amsterdam – zeigt, wie verfehlt und bösartig angesichts der enormen Bandbreite seiner Kunst der Vorwurf eines "ideenarmen, einfältigen Scheibenmalers" war. Inzwischen ist Nay wieder voll "rehabilitiert", gehört zu den modernen Klassikern.

Angesichts von über 1.300 Ölgemälden erscheint der graphische Nachlaß recht bescheiden. Trotzdem hat sich Nay sehr eingehend mit den komplizierten und zeitaufwendigen Verfahren, etwa der Farblithographie oder der Aquatinta, beschäftigt. Die Herstellung einer Graphikserie dauerte oft mehrere Monate, bis die Entwürfe auf die Druckplatten übertragen waren und die Blätter nach unzähligen Probedrucken und Korrekturen seinen Ansprüchen genügten. Die Witwe des Künstlers, Elisabeth Nay-Scheibler, hat in Ulm einen in seiner Einfachheit und Klarheit frappierenden Gedanken geäußert: "Bei den mathematisch-präzisen Prozessen des Auseinanderlegens und wieder Zusammensetzens der einzelnen Farbform-Elemente erlebt der Künstler eine Analyse seiner Kunst. Der geistige Gewinn besteht in einer neuen, neutralen Sicht, welche die Eigenarten seines Kolorits und seiner Formerfindung verdeutlicht." Erst bei der disziplinierenden Arbeit an Graphik lernt der Künstler also sich selbst und seine zuvor oftmals nur intuitiv erfaßte Malweise kennen. Frank Philip

 

Die Ausstellung ist bis zum 29. November im Kunstverein Ulm, Kramgasse 4, zu sehen. Öffnungszeiten: Di. bis Fr. 14–18 Uhr, Sa. und So. 11–17 Uhr


 
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