© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/98  06. November 1998

 
 
Währungspolitik: Wilhelm Hankel über den wirtschaftspolitischen Kurs von Lafontaine & Co.
"Kapitalflucht und Inflation"
Dieter Stein

Herr Hankel, Oskar Lafontaine fordert vehement eine Zinssenkung durch die Bundesbank. Was würden Zinssenkungen bedeuten?

Hankel: Eine isolierte Zinssenkung in Deutschland macht keinen Sinn. Weder gegenüber Europa noch gegenüber der Weltwirtschaft. In Europa macht es keinen Sinn, weil Europa in wenigen Wochen sein einheitliches Zinsniveau herstellen muß. Die relativ hohen Zinsen an der Peripherie Europas – Irland, Portugal und Spanien – müßten erst einmal herunterkommen. Wenn in dieser Situation das Land mit den niedrigsten Zinsen, nämlich Deutschland, weiter absenkt, werden die Schritte für die anderen nur größer. Aber auch weltwirtschaftlich macht eine Zinssenkung in der derzeitigen Lage keinen Sinn, denn dann würde der Zinsabstand zu den USA und anderen wichtigen Partnern noch größer.

Mit welchen Folgen?

Hankel: Das bedeutet, daß wir Kapital verlieren, daß D-Mark und Euro unter Druck geraten, es kommt zu falschen Umrechnungskursen in den Euro und am Ende muß die Zinssenkung wieder rückgängig gemacht werden. Es ist also zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig unverständlich, so etwas zu verlangen. Eigentlich ist das ein Schlag gegen den Euro, den diese Regierung ja doch will.

Welche Gründe hat die neue Bundesregierung dann für diese Forderung?

Hankel: Darüber kann man nur rätseln. Die Leute um Lafontaine fordern seit zehn Jahren niedrigere Zinsen. Aber was vor zehn Jahren vielleicht richtig gewesen wäre, ist es heute nicht mehr. Diese Forderungen sind schon deswegen verrückt, weil wir die niedrigsten Zinsen der Nachkriegszeit erreicht haben und jedes Daruntergehen die Finanzmärkte in Unruhe versetzen würde.

Welche kurzfristigen Erfolge erhofft man sich von Zinssenkungen?

Hankel: Es geht gar nicht um Zinsen. Was da veranstaltet wird, sind reine Machtspiele. Die neue Bundesregierung will zeigen, wer das Sagen hat, die deutsche oder europäische Zentralbank oder das Superministerium der Finanzen in Bonn.

Kann es den Sozialdemokraten mit diesem Gerede gelingen, die Unabhängigkeit der Zentralbank zu gefährden?

Hankel: Das alles zielt weniger auf die Bundesbank als auf die künftige Europäische Zentralbank (EZB). Die Bundesbank gibt so oder so in zwei Monaten ihre Existenz und damit ihre Unabhängigkeit auf. Insofern kann diese Pression nur auf den Nachfolger der Bundesbank gerichtet sein. Die neue Bundesregierung möchte, noch bevor der Euro da ist, zeigen, wer wem befielt. Tatsächlich ist die EZB eine der schwächsten Zentralbanken dieser Erde. Sie verfügt weder über die Wechselkurskompetenz, die unverändert bei den elf Mitgliedsregierungen der Währungsunion liegt. Was das bedeutet konnte man dieser Tage sehen: Die EZB hat weder Sitz noch Stimme im IWF noch bei G 7-Verhandlungen. Außerdem ist die EZB nicht nur schwach gegenüber den Regierungen, sondern auch gegenüber den Banken, die sie kontrollieren soll, weil ihr wichtige Instrumente fehlen. Die Bundesbank hatte beispielsweise die zinslose Mindestreserve und den Diskontsatz. Dies alles wird die EZB nicht haben. Sie ist auf reine Offenmarktoperationen angewiesen, operiert also nur als Bank und nicht als Aufsichtsbehörde. Außerdem ist sie, was die dringend benötigte Datenbeschaffung angeht, auf die Zuarbeit der elf Mitgliedszentralbanken angewiesen, eine Zuarbeit, die durchaus nicht die Genauigkeit und Geschwindigkeit haben wird, wie es die Bundesbank von ihren Landeszentralbanken gewohnt ist.

Muß man seitens der europäischen Regierungen mit weiteren Einschränkungen der ohnehin geringen Unabhängigkeit der EZB rechnen?

Hankel: Ja, und zwar durch eine weitherzige Interpretation des sogenannten Stabilitätspaktes. Tatsächlich ist der Waigelsche Stabilitätspakt seit dem Amsterdamer Gipfel vom Sommer vergangenen Jahres tot. Damals wurde die von deutscher Seite geforderte automatische Bestrafung von Fiskalsündern abgelehnt und durch ein förmliches Beschlußverfahren mit qualifizierter Mehrheit ersetzt. Es besagt im Klartext, daß man solche Beschlüsse kaum zustande bringen wird. Aber jetzt wird offen darüber geredet, die Defizitgrenzen für die Länder-Haushalte zu erweitern. Auf dieser Basis wird sich sicherlich eine Koalition europäischer Regierungen finden lassen, denn wer ist nicht an der Ausweitung seiner Defizite interessiert? Das ganze wird dann unter dem Namen eines "Euro-Keynesianismus" Furore machen – Keynes selbst würde sich dabei zwar im Grabe umdrehen. Nur: kommt es zu einem Aufweichen des Stabilitätspaktes, dann kommt es auch zu einem Gegeneinander von Finanz- und Geldpolitik: Die eine gibt Gas und die andere bremst. Doch damit ist weder den Arbeitslosen gedient, noch dem Ruf des Euro in der Weltwirtschaft.

Werden in Italien nun die Hemmungen bei der Verschuldung endgültig fallen?

Hankel: Italien ist ja aus unverständlichen Gründen immer falsch und viel zu milde beurteilt worden. In Italien haben ja überhaupt keine substantiellen Haushaltsreformen stattgefunden. Man hat die schon bisher exorbitante Staatsverschuldung ersetzt durch Auslandsschulden. Denn wenn das Ausland italienische Wertpapiere kaufte, dann wurden in Italien die Zinsen halbiert und diese Halbierung der Zinsen hat zu einer spürbaren Entlastung im Haushalt geführt. Dadurch ist nicht der Schuldenberg kleiner geworden, wohl aber die Zinsbelastung. Aus inländischen Staatsschulden wurden ausländische. Italien bleibt also nach wie vor ein Wackelkandidat was Reformen und Stabilitätspolitik angeht, denn: früher oder später fließt das Auslandskapital wieder zurück und dann haben wir dank Italien nicht eine Lira- sondern Euro-Krise.

Auf welche Weise werden die deutschen Bundesländer den Stabilitätspakt aushöhlen?

Hankel: Herr Waigel hat ja zurecht vorgeschlagen, daß der europäische Stabilitätspakt intern abgesichter wird durch die Hereinnahme der anderen Gebietskörperschaften. Im Falle Deutschlands wäre eine 3 %-Defizitgrenze nur zu halten, wenn sich nicht nur der Bund an diese Grenze hält, sondern auch die Bundesländer und die Kommunen. Hier hätte ien Finanzminister Lafontaine seine große Chance, denn anders als sein Vorgänger verfügt der neue Finanzminister nicht nur über die Mehrheit im Bundestag, sondern auch im Bundesrat. Er könnte also seinen Stabilitätswillen sehr einfach daran beweisen, daß er diesen von Waigel angedachten, aber nicht ausgeführten nationalen Stabilitätspakt zu Ende führt.

Damit ist wohl kaum zu rechnen.

Hankel: Davon war im Koalitionsvertrag und in der Regierungserklärung nicht die Rede.

Was ist vom "Beschäftigungskapitel" zu erwarten, das in den Masstrichtvertrag eingebaut werden soll?

Hankel: Die Massenarbeitslosigkeit, die wir in Europa in allen wichtigen Ländern haben, hat ja nur zu einem ganz geringen Teil konjunkturelle Ursachen. Sie ist überwiegend struktureller Art. Ein Beschäftigungskapitel, das lediglich auf den Einsatz staatlicher Instrumente zielt, ist daher sinnlos. Die Arbeitslosigkeit ist eben nicht keynesianischer Art, sondern muß über den Strukturwandel aufgefangen werden. Ein Beschäftigungsprogramm, das Strukturwandel anordnet, kann es nicht geben. Wenn also eine aktive Beschäftigungspolitik betrieben werden soll in der künftigen Europäischen Union, dann muß es darum gehen, die dafür notwendigen Rahmendaten und Mittel für Innovationen und neues Unternehmertum zu schaffen. Dies aber muß jedes Land für sich selber tun, dergleichen läßt sich nicht europäisieren.

Meinen Sie, daß Lafontaine eine Wirtschaftspolitk à la Schiller anstrebt?

Hankel: Selbst wenn er es wollte – Karl Schiller wäre heute der erste, der eine andere Politik betriebe als die von 1967 bis 1970. Schiller hat stets darauf hingewiesen, daß Wachstum und Stabilität zusammengehören – keines geht ohne das andere. Auch hat Karl Schiller wie kein anderer sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker davor gewarnt, vorzeitig die D-Mark zugunsten des Euro aufzugeben. Mit dem Übergang zum Euro gehen praktisch alle Instrumente des Schillerschen Globalsteuerung verloren. Es gibt keinen Wechselkurs mnehr, es gibt keinen nationalen Zins mehr und es gibt auch keine Autonomie in der Budgetgestaltung mehr. Infolgedessen kann heute und später in ganz Euro-Land keine Wirtschaftspolitik à la Schiller mehr betrieben werden. Lafontaine und die übrigen sozialdemokratisch-sozialistischen Regierungen müssen sich fragen lassen, wie sie die Arbeitslosigkeit in ihren Ländern bekämpfen wollen; denn ohne makropolitische Absicherung kommt es zum wildesten Wettbewerb der europäischen Wirtschaft gegen und miteinandder im gemeinsamen Binnenmarkt. Da muß sich dann jeder seine Überlebensstrategie aussuchen: Fusionieren, Rationalisieren oder entlassen! Am Ende wird es mehr und nicht weniger Arbeitslose geben. Vielleicht liegt hier der Grund für die verbalen Angriffe auf die EZB. Man sucht schon jetzt den Schuldigen für das voraussichtliche Desaster am Arbeitsmarkt.

Haben sich nun wirtschaftspolitisch gegenüber der Zentralbank die Rollen Deutschlands und Frankreichs vertauscht?

Hankel: Deutschland ist auf Frankreich zugegangen und nicht umgekehrt. Es war ja schließlich Frankreich, was den Euro nicht als stabile Währung versteht, sondern als Instrument der Beschäftigungsförderung. Und es war – bisher – Deutschland, was dagegen gehalten hat. Die neue Bundesregierung hat nun die französische Position voll übernommen. Zweierlei muß sich jetzt herausstellen, ob die deutsch-französische Achse den übrigen Europäern überhaupt vermittelbar ist und ob sie Erfolg hat. An beidem ist jeder Zweifel erlaubt.

Was ist die Konsequenz dieser Politik?

Hankel: Es wird massenhaft Kapitalflucht geben und mehr Inflation. Im Ergebnis wird der Euro-Kurs sinken und die Zinsen in Euro-Land steigen. Damit aber werden Krise und Arbeitslosigkeit zunehmen.

Wie ist diese kurzsichtige Wirtschaftspolitik zu erklären?

Hankel: Vermutlich haben viele sozialdemokratische Politiker kein Verhältnis zur weltoffenen Wirtschaft. Sie denken bewußt oder unbewußt in den Kategorien eines isolierten und geschlossenen Staatsgebildes. Das sieht man an Lafontaine, der die Weltwirtschaft ja genauso ordnen will wie eine staatsgeleitete Volkswirtschaft. Das sieht man auch an der staatstragenden Elite in Frankreich, die ja ebenfalls nicht ökonomisch denkt, sondern etatistisch. Die Vorstellung, daß man im geschlossenen Euro-Raum eine eigenständige Geld-, Zins- und Lohnpolitik betreiben kann, übersieht völlig, daß eben auch Europa in die Weltwirtschaft eingebunden ist und daß jeder Versuch, eine davon abweichende Politik zu machen, entweder damit endet, daß man Kapitalflucht bekommt oder daß man den verheerendsten aller Artikel des Maastricht-Vertrages in Kraft setzen muß, nämlich 73 f , der Kapitalverkehrskontrollen erlaubt und aus dem Euro eine Mausefallen-Währung macht, in die man zwar hereinkommt, aber nicht wieder heraus.

Es besteht somit die akute Gefahr, daß der weiche Euro den bisherigen Handelsprotektionsimus der EU zu einem Währungsprotektionismus erweitert. Eine solche "Festung Europa" wäre ein ähnliches System wie der untergangene Block des Kommunismus. Er müßte auf viele Vorteile der Weltwirtschaft verzichten und würde seine Bürger nicht reicher machen.

Sie waren einer der Hauptkläger gegen die Euro-Währung. Fühlen Sie sich von der Entwicklung bestätigt?

Hankel: Wir Euro-Kläger hätten nicht erwartet, daß wir so schnell Recht bekämen und vor allem hatten wir nicht erwartet, daß das eigentliche Stabilitätsrisiko für den Euro nicht Italien heißt, sondern Deutschland. Letzteres ist für uns die eigentliche Überraschung. Ein Deutschland aber, daß den Weg in eine beschäftigungsfreundliche Geldpolitik geht, wird früher oder später erleben müssen, daß die Menschen diese Währung ablehnen, daß sie ihr Geld wie die Anleger anderer Weichwährungs-Länder lieber in fremden Währungen anlegen als in der eigenen. Die Ablehnung gegen den Euro wird sich auf Europa übertragen, die Ablehnung der europäischen Idee. Und das ist schade. Die Euro-Fans in der früheren Bundesregierung und in der gegenwärtigen werden erleben, daß sie mit der vorzeitigen und überhasteten Einführung des Euro ihrer Politik mehr geschadet als genützt haben.

Der Euro ist aber nicht mehr zu stoppen?

Hankel: Sicher nicht. Aber jetzt geht es nicht mehr darum, ob der Euro kommt oder nicht. Sondern es geht darum, die Folgen eines weichen Euro abzuwehren. Deswegen muß die Öffentlichkeit motiviert werden, Widerstand gegen diese Politik zu leisten. Denn die gegenwärtige Bundesregierung steht in vier Jahren zur Wiederwahl. Wenn sie schon heute weiß, daß sie mit dieser Politik keine Chance auf Bestätigung im Amte hat, wird sie es sich – so ist zu hoffen – vielleicht doch noch überlegen.


Prof. Dr. Wilhelm Hankel
(66) war früher Abteilungsleiter für Geld und Kredit unter Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) und Chef der Hessischen Landesbank. Heute lehrt er Währungs- und Entwicklungspolitik an der Universität Frankfurt am Main und berät Regierungen in der Dritten und Zweiten Welt. Hankel begann seine Karriere bei der Bank deutscher Länder, der Vorläuferin der Bundesbank. Karl Schiller holte den damaligen Chefökonomen der Kreditanstalt für Wiederaufbau Ende der 60er Jahre ins Wirtschaftsministerium nach Bonn, wo er für eine Reihe von Reformen des deutschen Geld-, Bank- und Börsenwesens verantwortlich zeichnete.


 
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