© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Unternehmen "Barbarossa": Deutsche Zeitgeschichte hat sich blamiert
Ein überfälliger Angriff
Hans B. von Sothen

Die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft der vergangenen 40 Jahre ist seit der "Fischer-Kontroverse" (JF 40/98) Ende der 50er Jahre immer stärker in den Sog einer psychologisierenden Aufarbeitungshistorie geraten. Schlagworte wie das der "Kontinuität" unseliger Traditionen der deutschen Geschichte bestimmen seitdem das stark ideologisierte Weltbild einer nachgewachsenen Historikergeneration. Für die jungen Historiker, die bereits in der babylonischen Gefangenschaft der antideutschen Historiographie aufgewachsen sind, ist dieser Forschungsansatz zur Selbstverständlichkeit geworden.

Was als durchaus notwendige Überprüfung des Geschichtsbildes des 19. Jahrhunderts – das ja in Westdeutschland auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer verbreitet war – begann, endete in einem häufig antideutschen Erkenntnisinteresse. Dies begann Ende der 50er Jahre mit der Feststellung Fritz Fischers einer vermeintlichen deutschen Haupt- und Alleinschuld am Ersten Weltkrieg und endete vorläufig im Historikerstreit von 1986, in dem Jürgen Habermas durch Zitatfälschungen ein drohendes "Abrutschen" des linken öffentlichen Konsenses verhinderte.

Ein weiteres Thema ist bis heute ideologisch umkämpft, obwohl es wissenschaftlich entschieden ist: War der Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion im Jahre 1942 "Angriff" oder "Überfall"? Zu diesem Thema hat sich jetzt Ernst Topitsch in einer Neuauflage seines Werkes "Stalins Krieg" (Busse-Seewald Verlag, Herford 1998, 336 S., geb., 36 Mark) geäußert, das als eines der grundlegenden Bücher zu diesem Themengebiet gilt. Das Thema des schicksalhaften deutschen Angriffs auf die Sowjetunion liegt wesentlich anders als das der Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg. Hier trafen zwei Ideologien aufeinander, die neben sich keine Alternative duldeten und deren Zusammenstoß, nahmen sie ihre eigenen Grundsätze ernst, nur eine Frage der Zeit sein konnte.

Bis in die 70er Jahre war das Thema aus dem offiziellen Forschungskanon weitgehend verdrängt. Das Eingeständnis, Hitler könnte die Sowjetunion nur im Vorgriff auf einen sicher bevorstehenden Offensivkrieg Stalins angegriffen haben, bedeutete für viele Historiker, die Büchse der Pandora zu öffnen. Hitler, dieses absolute Böse, sollte sich in seinem Angriff auf die Sowjetunion in Ansätzen rational verhalten haben? Das konnte doch nur dazu führen, daß auch Hitlers sonstige Taten entschuldigt würden. Der Anfang eines gigantischen Verharmlosungs- und Reinwaschungsprozesses, dem gleich zu Anfang ein Riegel vorgeschoben werden mußte.

In dieser Denkweise mag sicher ein wichtiger Grund für den volkspädagogischen Impetus der "konformistischen Zeitgeschichte" zu suchen sein, mit dem das Thema immer wieder behandelt worden ist. Eine Rolle in diesem trüben Kapitel spielten aber nicht nur die linke, einem prinzipiell parteiischen Geschichtsbild verpflichteten Historiker, sondern auch eine seit den 70er Jahren vermehrt auftretende bürgerlich-konformistische Zeitgeschichtsschreibung.

Frühe Hinweise auf die ebenso überraschende wie gefährliche These, Hitler könnte 1942 einem Überfall Stalins lediglich zuvorgekommen sein, enthielten bereits der Ende der 60er Jahre erschienene Sammelband von Seweryn Bialer, "Stalin and his Generals" (New York 1969) und die auch in deutscher Übersetzung erschienenen Memoiren der Sowjet-Marschälle Shukow, Merezkow sowie Bagramjan und Wassiljewski, deren Rezeption zunächst von deutschen und westlichen "progressiven" Historikern wie John Erickson und Bianka Pietrows geflissentlich auf das "volkspädagogisch Wünschenswerte" reduziert wurden. Auf diese, zum Teil bereits in den 60er Jahren in der Sowjetunion erschienene verstreute Literatur stützte sich später Viktor Suworow ("Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül", Stuttgart 1989). – In Deutschland leisteten Philipp W. Fabry ("Der Hitler-Stalin-Pakt 1939–1941", Darmstadt 1962) und der Militärhistoriker Erich Helmdach ("Überfall?", Neckargmünd 1974) Pionierarbeit.

Der Titel "Stalins Krieg" war 1985, zur Zeit der Erstauflage von Topitschs Buch, noch eine glatte Provokation. Sein Untertitel "Moskaus Griff nach der Weltherrschaft" scheint eine Reminiszenz auf Fritz Fischer, der Deutschland bereits 1914 nach der Weltmacht greifen sah, was es seitdem in eiserner militaristischer Kontinuität immer wieder getan habe. Eine Kampfansage an den Zeitgeist also.

Eine Zäsur bildete das Jahr 1989. Die Neubewertung des Themas, die durch Topitsch eingeleitet wurde, wurde seitdem im Rahmen von Glasnost und Perestrojka durch bislang unveröffentlichte Dokumente aus sowjetischen Archiven unterstützt. Und es zeigte sich, daß die Ergebnisse, die Topitsch bislang nur anhand von veröffentlichten Quellen belegen konnte, auch durch die nunmehr öffentlich gemachten Dokumente aus der Sowjetunion gestützt werden konnten. Die grundlegende Arbeit Viktor Suworows erschien 1989. Bereits am 8. Mai 1991 hatte Oberst B. Petrow in der Prawda ohne Umschweife zugegeben, daß das Unternehmen Barbarossa einem sowjetischem Überfall auf Deutschland zuvorgekommen sei. Zeitgleich zum Prawda-Artikel lief im polnischen Fernsehen eine Sendung, die im wesentlichen die Aussagen Petrows bestätigte.

Geradezu bahnbrechend war der Aufsatz des russischen Militärhistorikers Oberst i.R. Walerij Danilow "Hat der Generalstab der Roten Armee einen Präventivschlag gegen Deutschland vorbereitet?", den dieser 1993 in der Österreichischen Militärischen Zeitschrift veröffentlichte und den nun Topitsch in seiner Neuauflage erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht.

Auch in der deutschen Forschung haben sich seitdem die Ergebnisse denen von Topitsch und der russischen Forschung angeschlossen. In den ausgezeichneten Arbeiten etwa von Walter Post ("Unternehmen Barbarossa – Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940/41", Hamburg 1995) und Joachim Hoffmann ("Die Sowjetunion bis zum Vorabend des deutschen Angriffs", in: H. Boog et al., "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg", Band 4, Stuttgart 1983) sind die russischen Pläne minutiös aufgelistet.

Von einem Überfall – und diese These findet sich immer noch in einer nicht geringen Anzahl der Geschichtsbücher für deutsche Grund- und Berufsschulen und Gymnasien – auf die friedliebende und gutgläubige Sowjetunion kann nach diesen Forschungen nicht mehr die Rede sein.

Doch der Abschied von liebgewordenen Mythen fällt offenbar schwer. Sicher gibt es die alte, nach orthodox-kommunistischen Maßstäben geschriebene Sowjethistorie, von der in Deutschland bei den Linken vor allem Lew Besymenski ("Sonderakte Barbarossa", Reinbek 1973) rezipiert wurde, den Topitsch einen "der prominentesten Vertreter der kommunistischen Agitprop-Historie" nennt.

Die linke, aber auch die bürgerlich-konformistische Zeitgeschichte reagierte auf die wichtigen Arbeiten von Suworow, Topitsch und Hoffmann mit einer Mischung aus Arroganz und Gereiztheit. In einem Sammelband der von Rüdiger Proske beschriebenen "Roten Zelle" im Freiburger Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) (Roland G. Foerster/Hrsg., "Unternehmen Barbarossa", München 1993), versuchte man noch einmal ein "volkspädagogisches" Werk vorzulegen, in denen der MGFA-Kollege Hoffmann allerdings noch nicht einmal um den Vortrag einer Gegenposition gebeten wurde.

Topitsch wirft einigen dieser Ehrenretter Stalins "bewußte Verschleierung von Fakten und (…) eine Unterdrückung von Schlüsseltexten" vor. Im Fall des Historikers und MGFA-Mitarbeiters Joachim Hoffmann ging man sogar soweit, ihm unverhüllt mit Repressionen zu drohen.

Als nämlich Hoffmann aufgrund genauer Auswertung russischer Unterlagen eine wohlfundierte Analyse des Aufbaus der Streitkräfte und des militärisch-industriellen Komplexes der Sowjetunion für seinen Band "Der Angriff auf die Sowjetunion (…) ausarbeitete, versuchte man, auf sein Werk Einfluß zu nehmen. Man legte ihm nahe, seine Folgerungen im Einklang mit der These, "die Sowjetunion sei ein friedlicher, kein aggressiver Staat gewesen" so zu verdrehen, "daß der sowjetische Aufmarsch ab 1940 nur als eine Reaktion auf einen angeblichen deutschen Aufmarsch zu verstehen sei". Gestrichen werden sollten unter anderem die Darstellung der Komplizenschaft der Sowjetunion beim Angriff auf Polen und bei der Liquidation des Staates. Gestrichen werden sollte ein Zitat Marschall Gretschkos, daß allein die Fronttruppen, keinesfalls aber die Regierung und die höheren Führungsstellen der Armee von dem deutschen Angriff überrascht worden seien." (Alle Zitate aus der Klageschrift) Hinweise auf eine irgendwie geartete Mitschuld der Sowjetunion sollten eliminiert werden. – Man mag seine Vermutungen anstellen, warum.

Hoffmann wurde jedenfalls 1984 sogar vor das Landgericht Freiburg zitiert, damit er seine öffentliche Verwunderung über solche Methoden unterlasse. Diese Klage wurde zwar kostenpflichtig zurückgewiesen, Hoffmanns Werk unzensiert veröffentlicht. Doch die "Rote Zelle" im MGFA reagierte noch im selben Jahr mit einem Werk, das die erwünschte prosowjetische Diktion aufwies (G.R. Überschär/W.Wette, "Unternehmen Barbarossa –Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941", Paderborn 1984). Es handelt sich um denselben Professor Wolfram Wette, der auch den Reemtsma’schen Anti-Wehrmacht-Ausstellungen wissenschaftlich mit Rat und Tat zur Seite steht.

Die von seiten der zeitgeistkonformen Zeitgeschichtsschreibung ursprünglich öfter zu hörende Forderung nach Freigabe bisher nicht zugänglicher russischer Dokumente ist von dieser Seite inzwischen verstummt. Denn alle seit 1990 bekanntgewordenen Akten und Urkunden haben belegt, daß die volkspädagogisch motivierten deutschen Historiker unrecht haben. Nicht umsonst spricht deshalb Topitsch von einem "Cannae" der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, von einer "Historikerblamage historischen Ausmaßes". Topitsch bringt es auf den Punkt: "Heute ist die Behauptung vielleicht nicht mehr verfrüht, die Matadore der konformistischen ‘Zeitgeschichte’ hätten nur mehr die Aufgabe, die Öffentlichkeit so lange wie möglich darüber hinwegzutäuschen, daß sie das Gesicht verloren haben."


 
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