© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
"Berliner Republik": Sprachlos gegenüber den zerfurchten Realitäten
Sehnsucht nach dem Bruch
Andrzej Madela

Daß Michael Naumann ein leichtes Spiel haben würde, die "Berliner Republik" begrifflich für die SPD zu kapern, müssen alle geahnt haben, denen sein direkter Gegenspieler mal über den Weg lief. Denn mit Anton Pfeiffer stand nicht nur eine Idealbesetzung der sprichwörtlichen Bonner Verschnarchtheit zur Verfügung. Kohls Mann fürs Weihevolle, mißverständlich Kultur genannt, agierte auch im Wahlkampf geradezu dilletantisch. In der Debatte um denkbare Umrisse staatsgestützter Ästhetik glänzte er durch Abwesenheit. Aggressive Diktion war seine Sache ohnehin nicht, und wer wenigstens modernes Kultur- und/oder Kostenbewußtsein erwartet hatte, sah sich ebenfalls enttäuscht. Zu Buchpreisbindung, Berlin-Förderung und Goethe-Instituten war ihm keine klare Stellungnahme zu entlocken.

Mit ermattetem Willen und verbrauchtem Konzept verabschiedete sich also die Bonner (Kultur-)Politik vom Wahlpublikum. Das Unbehagen am 16jährigen Verschleiß war offenkundig und die diffuse Hoffnung auf einen Neuanfang nicht minder. Und als Naumann wenig später die alte Sehnsucht nach Kultur als Widerschein glanzvoller Staatsästhetik gekonnt ins Gespräch brachte, war im deutschen Blätterwald kein Halten mehr. Dienstbeflissen inspizierten Feuilletonisten landauf, landab Grenzmarken der "Berliner Republik"

Naumann (beileibe nicht die SPD) hat es verstanden, diesen Begriff für diverse, oft diffuse Deutungsvarianten offenzuhalten. Eine davon läuft auf die Versöhnung geschichtsträchtiger Tradition mit innovationsversessener Moderne hinaus; sie schlägt sich nieder im Vorschlag zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses inmitten urbaner Großentwürfe aus Marmor, Glas und Eisen. Eine zweite bedient die uralte (west-)deutsche Sehnsucht nach "Normalität". Naumanns Einsatz für neue Goethe-Institute verdeutlicht den Drang nach stilvoller Repräsentation einer selbstbewußt gewordenen Staatsnation. Der dritten letztlich kommt eine Schlüsselfunktion zu: Mit der Ablehnung des Holocaust-Denkmals verweigert der frischgebackene Staatsminister die Einübung in ein zu Altersstarre geronnenes Ritual Bonner Selbstverständlichkeit.

Ist demnach ein neues Kulturkonzept im Kommen, das Paradestück der "Berliner Republik"? Je rigider die Erwartung eines Bruchs mit den als unerträglich empfundenen Bonner Zuständen ausfällt, desto inbrünstiger der Glaube an einen substanziellen Neuanfang. Bei all den Vorschußlorbeeren für einen solchen Bruch gerät freilich manche Kontinuität aus der Optik. Besonders das "rechte" Denken verheißt eine Berliner Republik als völlig geschichtsloses Produkt politisch unbefleckter Empfängnis: "Berlin" kommt hernieder aus dem buchstäblichen Nichts, es hat weder Eltern noch Paten, und sein Taufwasser riecht nicht nach Schweiß und Blut jüngster Vergangenheit, sondern nach einem Eau de Cologne glattrasierter Akademiker mit nur bedingtem Gegenwartsbezug.

Dabei gibt es der Kontinuitäten Legion. Die einschneidenste davon: "Berlin" setzt die klare Absage seines rheinländischen Vorgängers an die grenzüberschreitende Vision einer deutschen "Kulturnation" ungebrochen fort. Mit dem 2+4-Vertrag hatte sich Deutschland endgültig zum aufklärerischen Konzept einer modernen Staatsnation durchgerungen und dadurch Volk und Territorium für miteinander identisch erklärt. Aus dieser Sicht entfällt nun die zuletzt ohnehin nur noch halbherzig betriebene Verbindung zu den "Ostgebieten" endgültig.

Diese Identitätserklärung übernimmt die vermeintlich andere Republik genauso, wie sie vorbehaltlos die Geschäftsgrundlage ihrer Vorgängerin – das Grundgesetz – akzeptiert. Und exakt wie jene wird auch diese eine zwar schleichende, aber effektive Entwertung einiger Kulturaufträge betreiben, auf die der Bund vom Gesetzgeber verpflichtet ist. So muß man kein Prophet sein, um dem Bund der Vertriebenen (BdV) ein endgültiges Aus vorherzusagen. Als Träger der Idee von der Kulturnation passé, als Trachtenverein überaltert, als Geselligkeitsmanager dröge – sein Abrutschen ins kulturpolitische Nichts vollzieht sich bereits seit Jahren auf Raten, wenn auch die Phase des freien Falls noch nicht erreicht ist.

Außer Kulturverständnis, Verfassung und tatkräftiger Förderung von Multiethnizität bekommt die vielgelobte neue Republik Begrifflichkeit und Instrumente der Kulturhoheit von der scheidenden Vorgängerin überlassen. Ein Blick ins CDU-Kulturprogramm schafft unmißverständlich Klarheit: Kultur sei dazu da, "Dialogfähigkeit" und "Konsens" aufrechtzuerhalten, die Wege zu letztgenanntem laufen über "Kommunikation", diese wiederum habe das "Miteinander" unterschiedlicher Werte "auszugestalten".

Daß dieses Vokabular nicht erst mühsam eingeführt werden muß, sondern seit Jahren Allgemeingut ist, unterstreicht, wie ununterscheidbar besagte Republik im Geistigen geworden ist. Es entbehrt nicht einer geschichtlichen Ironie, daß ausgerechnet bei den vorgeblich konservativen Regenten die Kulturtheorien der heiligen Dreifaltigkeit Habermas, Glaser und Bolz zur Anwendung kamen. Daß allen drei der Sinn für Kultur als Konflikt und Gewalt abgeht, daß ihre butterweichen, "Konsens"-Begriffe schon einige Kilometer östlich der Elbe elend verröcheln, ist ein Zeichen fortgesetzten Versagens, allerdings mit unterschiedlichem Akzent: Stiliserte die Bonner Kulturtheorie ihre Republik zu einer konfliktlosen Insel der Seligen, so findet ihre Nachfolgerin keine adäquate Sprache, die zerfurchte Realität zu beschreiben.

Die "Berliner Republik" ist nicht eine Abkehr von "Bonn", sondern seine radikale Vollendung. Zumindest in Kulturdingen gibt es hier nichts, was nicht bereits früher im Keim angelegt wäre. Wohltuende Differenzen treten nur bei zwei Sachverhalten auf. Zum einen ist der Osten weitaus weniger auf "Konsens" und "Dialog" angewiesen – nicht zuletzt, weil deren klassische Träger, das gutsituierte Bürgertum mit libertär-ökologisch angehauchter Weltsicht, als politische Kraft in seiner grünen und gelben Variante hier gegen Null tendiert. Zum anderen kommt mit der Beteiligung der PDS an der Führung eines Bundeslandes ein Präzedenzfall zustande. Der "Konsens aller Demokraten" findet sich in der Rumpelkammer der parteipolitischen Rhetorik wieder und die PDS um ihren Märtyrerschein ewigen Ausgeschlossenseins gebracht. Mag sein, daß nun Gymnasiasten in Schwerin neben Walser und Grass auch Strittmatter und Heym empfohlen bekommen. Da aber schon der Druck neuer Schullektüre nicht ohne segensreichen Griff der Bonner Hand in die dortigen Geldtöpfe zu machen ist, werden wahre Revolutionen vorerst ausbleiben.


 
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