© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Pankraz,
L. Börne und der König bei den Schlachtizen

Die neue Regierung ist nun endlich vereidigt und kann mit dem Regieren beginnen. Aber was heißt heutzutage regieren? Unvergeßlich die Klage von Helmut Schmidt seinerzeit, daß er, seit dem er zum Bundeskanzler gewählt sei, gar nicht zum Regieren komme, weil er sich statt dessen dauernd vor irgendwelchen Gremien erklären, entschuldigen, rechtferigen müsse. Daran scheint sich wenig geändert zu haben.

Die Koalitionsverhandlungen der letzten Wochen haben eine recht plastische Vorstellung gegeben von dem, was den frisch gewählten Mandatsträgern, ob Abgeordnete oder Regierungsmitglieder, bevorstehen könnte. Ganz ungeniert machte ein Begriff aus alten Apo-Tagen die Runde: das "imperative Mandat". Die Mandatare sollen an die ganz kurze Leine der Parteien. Noch der kleinste Dreck ist in Papieren festgeschrieben,und bei jeder unvorhergesehenen Wendung der Politik verlangt die "Basis", daß der Kanzler bei ihr anklopft, um sich Auftrag und Wegweisung abzuholen. Das Prinzip der Repräsentation wurde faktisch suspendiert.

Unter solchen Bedingungen schwebt eine Regierung immer in der Gefahr, zum bloßen Pedell außerparlamentarischer Kräfte zu werden. "Le roi règne et ne gouverne pas", wie man höhnisch im alten polnischen Schlachtizen-Reichstag zu sagen pflegte: "Der König herrscht zwar, aber er regiert nicht."

Verstärkt wird die Kalamität, wie schon zu Helmut Schmidts Zeiten, dadurch, daß der Kanzler nicht gleichzeitig Parteivorsitzender ist, den Vorsitzenden aber in seinem Kabinett sitzen hat, von wo aus der seine Fäden bequem in sämtliche Richtungen spinnen kann: zur Frakion, zum Koalitonspartner, zur Partei, zur "Basis". Rein institutionell gesehen, ist Lafontaine mächtiger als Schröder und mag sich demgemäß (mit viel mehr Recht als einst Franz Josef Strauß) sagen: "Was schert mich, wer unter mir Kanzler ist!"

Wo stehen die Hilfstruppen Gerhard Schröders? Die "Methode Kohl" kann der Kanzler nicht anwenden, eben weil er nicht Parteivorsitzender ist. Kohl fand, wie jetzt Lafontaine, seinen archimedischen Punkt in der "Basis", also in den regionalen Funktionärsriegen, die er sich durch Postenschacher dauerhaft zu verbünden wußte. Von dort aus konnte er im Bedarfsfall die Fraktion aus den Angeln heben, innerparteiliche Konkurrenten und junge Kader ausschalten und via "Koalitionsausschuß" auch noch den Koalitionspartner stillstellen. All das vermag in der neuen Konstellation vielleicht Lafontaine, aber nicht Schröder.

Trotzdem ist der Spielraum des Kanzlers am Beginn seiner Regierungszeit groß. Er hat (im Moment wenigstens) das Gros der Medien hinter sich, und zwar in einem Maße, wie es nicht einmal Willy Brandt in seiner Frühzeit genoß. Seine "Neue Mitte"-Rhetorik wirkt moderner als die Umverteilungs- und "deficit spending"-Ideologie Lafontaines, sie kann durchaus in effektive Maßnahmen umgesetzt werden, trotz der programmatischen Fesselung durch die Koalitionspapiere.

Keines der von den Parteien vereinbarten Vorzeigeprojekte ist im Volk populär, weder die "ökologische Steuerreform" noch die neuen Staatsbürgerschafts-Regelungen, noch die "Modellpolitik" in der Drogenfrage. Je mehr Schröder zu diesen Sachen sichtbare Distanz hält, um so größer wird sein öffentliches Ansehen sein. Und in seiner eigenen Bundestagsfraktion hat er eindeutig die Mehrheit; Pressionen von dieser Seite sind auf lange Sicht nicht zu erwarten.

Schon in der alten SPD der Kaiserzeit stand die Reichstagsfraktion immer rechts von der Partei und wußte sich permanent gegen sie durchzusetzen. Diese Tradition könnte Schröder im Notfall wahrscheinlich ziemlich leicht wiederbeleben und für sich gegen Lafontaine und die "Basis" ausnutzen. Seine Chancen, zu regieren und nicht nur zu "herrschen", stehen also gar nicht schlecht.

Eine ganz andere Frage ist freilich, ob er überhaupt regieren will und kann. Viele Regierungschefs, besonders wenn es Silberzungen und Medienlieblinge sind, entarten unterm Anprall des Ernstfalls ja nur allzu leicht zum bloßen "Herrscher", begnügen sich, "lau zu baden" (Wehner sarkastisch über Brandt), die Rituale des Obenstehens und der Medienpräsenz voller Wonne auszukosten und Entscheidungen entschlosseneren Generälen zu überlassen, die oft das Gegenteil dessen anrichten, was die Nummer eins "eigentlich" gewollt hat.

Oder sie entwickeln sich, wie Helmut Kohl, zu Machtgenießern um der puren Macht willen. Sie bringen dann ihre Regierungstage nur noch damit zu, an den Strippen zu ziehen, einen gegen den anderen auszuspielen, über die Bande zu spielen, für "Ruhe an den Rändern" zu sorgen, so daß am Ende von niemandem mehr etwas wirklich entschieden werden kann, alles stickig und hohl wird und die Nummer eins schließlich, um das berühmte Bild von Heimo Schwilk zu gebrauchen, wie eine "Grabplatte über dem Land " liegt.

Ob Schröder in eine dieser Fallen hineintappt, wird die Zukunft zeigen. Er hat im Wahlkampf konsequent die "black box" markiert, den Hoffnungträger, in den man investieren sollte, ohne zu wissen, ob die Investition sich je auszahlen würde. Jetzt hilft kein Lippenspitzen mehr, jetzt muß endlich gepfiffen werden. Und jetzt steht auch kein Vorgänger mehr zur Verfügung, dessen Fehler eigene Insuffizienz überdecken können. Wenn es schiefgeht, wird es niemanden geben, dem er die Schuld in die Schuhe schieben kann.

"Der Trick aller Regierenden, vom Minister bis zum Hausmeister", schrieb Ludwig Börne, "besteht darin, ihr Regieren als ein großes Geheimnis auszugeben, das dem Volk zu seinem eigenen Besten verschwiegen werden muß." Kanzler Gerhard Schröder wird sein Geheimnis preisgeben müssen.


 
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