© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Berlin: Die CDU fürchtet eine vorzeitige Auflösung des Abgeordnetenhauses
Angst vor dem Votum der Wähler
Martin Otto

Oft gebraucht und dennoch zutreffend ist der Vergleich des Berliner Senats mit einem sinkenden Boot. Nicht wenige Beobachter haben den Eindruck gewonnen, jeder versuche sich davonzustehlen, und freiwillig möchte kaum jemand mehr Mitglied der Berliner Landesregierung werden. Selbst der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) gibt sich nur noch wenig Mühe, die Senatskrise schönzureden.

Doch die Probleme liegen nicht allein auf CDU-Seite. Bessere Leute oder gar frischen Wind kann auch die SPD nicht bieten, denn auch bei den Berliner Genossen rennen die Anwärter auf ein Senatorenamt nicht gerade die Tür ein.

Ein zerstrittener und amtsmüde wirkender Senat, zwei in innerparteiliche Flügelkämpfe verstrickte Koalitionsparteien und darüber das Damoklesschwert einer Neuwahl von Senatoren – das alles hat es schon einmal gegeben. Es war Ende der siebziger Jahre, als der sozialliberale Senat unter Dietrich Stobbe an einer Senatsumbildung scheiterte. Jetzt droht womöglich die Wiederholung dieses Szenarios, fürchtet vor allem die Berliner CDU, damals der lachende Dritte und Nutznießer der Senatskrise.

Heute ist die Situation umgekehrt. Die Bundestagswahl am 27. September bescherte der Union in fast allen Großstädten ein Desaster, besonders aber in Berlin. Selbst uneinnehmbar geglaubte CDU-Bastionen fielen an die SPD. Die bodenständigen Laubenpieper in den Bezirken Neukölln und Tempelhof, die Anfang der achtziger Jahre scharenweise zur CDU überliefen, kehrten zur SPD zurück, alle Wahlkreise im Westteil der Stadt, die noch 1990 ausnahmslos von CDU-Bewerbern gewonnen werden konnten, wurden von SPD-Kandidaten erobert. Und im Ostteil Berlins sind die Christdemokraten ohnehin noch nicht am Ende des Tal der Tränen angekommen. Wären jetzt Neuwahlen, die SPD würde sicher stärkste Partei in Berlin. Daß die CDU in dieser Situation an einer vorzeitigen Auflösung des Abgeordnetenhauses kein Interesse haben kann, liegt auf der Hand. Trotzdem wären Neuwahlen der einzige Ausweg aus der Regierungskrise, falls die für den 12. November vorgesehene Senatorenwahl scheitern sollte.

Wer verläßt Berlin? Der schwerste Verlust dürfte Innensenator Jörg Schönbohm sein. In der CDU galt er als die große Hoffnung der Diepgen-Kritiker. Der ehemalige Bundeswehr-General verhieß frischen Wind in die Berliner Politik zu bringen. Er profilierte sich als innenpolitischer Hardliner, ließ besetzte Häuser räumen und diskutierte aber trotzdem mit Autonomen. Zudem brachte Schönbohm überfällige Verwaltungsreformen auf den Weg, an denen seine Vorgänger – unabhängig von ihrer Parteifärbung – allesamt gescheitert waren.

Jetzt schmeißt Schönbohm die Brocken hin und geht als designierter Landesvorsitzender und Spitzenkandidat der CDU nach Brandenburg. Es läßt bezeichnende Rückschlüsse auf den Zustand der Berliner Union zu, daß Schönbohm auf seine komfortable Position in Berlin verzichtet, um den Vorsitz im wohl machtlosesten Landesverband der CDU zu übernehmen. "Wie bei der CDU Brandenburg" gilt anderswo bereits als Synonym für "wie bei Hempels unterm Sofa".

Nachfolger Schönbohms soll der bisherige Staatssekretär im Bundesinnenministerium und frühere Präsident des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach, werden.

Es gilt als offenes Geheimnis, daß Diepgen den Weggang seines vermeintlichen Konkurrenten Schönbohm aktiv betrieben hat. Die Wahlschlappe bei der Bundestagswahl bescherte den Diepgen-Kritikern zwar eine peinliche Niederlage; profilierte Vertreter der innerparteilichen Plattform "Union 2000" wie Uwe Lehmann-Brauns und Ekkehard Wruck scheiterten als Direktkandidaten in ihren Wahlkreisen und verpaßten mangels Absicherung auf der Landesliste den Einzug in den Bundestag. Doch dürfte sich ihr Ehrgeiz nun um so stärker gegen Diepgen richten.

Die Nominierung Wolfgang Branoners als neuer Wirtschaftssenator werten einige in der CDU bereits als Zugeständnis Diepgens an seine Kritiker. Noch vor einem Jahr hatte der Regierende Bürgermeister es abgelehnt, Branoner in die Wahl zu ziehen; der 42jährige ehemalige Stadtrat galt Diepgen als "nicht ministrabel". Jetzt soll Branoner Noch-Wirtschaftssenator Elmar Pieroth ersetzen, der an seiner Amtsmüdigkeit seit langem keinen Zweifel mehr aufkommen läßt.


 
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