© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Völkerrecht: Zur Verhaftung Pinochets
Delikater Eingriff
Josef Schüsslburner

Man stelle sich vor, die kanadische Polizei würde in Ottawa einen mit einem Diplomatenpaß nach Kanada eingereisten deutschen Bundestagsabgeordneten festnehmen: Es läge ein Auslieferungsersuchen der USA vor, welches dem Abgeordneten Freiheitsberaubung eines US-Amerikaners vorwerfe. Aufgrund des Straftatbestandes der "Volksverhetzung", dessen Verschärfung der Abgeordnete zugestimmt habe, habe ein deutsches Gericht einen amerikanischen Staatsangehörigen wegen "Leugnung und Verharmlosen des Holocaust" zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Da dieses "Leugnen" in den USA vom Recht der Meinungsfreiheit gedeckt sei, könne das US-amerikanische Recht diese über den amerikanischen Staatsangehörigen ausgesprochene Freiheitsstrafe nur als Freiheitsberaubung ansehen. Kanada sei durch ein Auslieferungsabkommen mit den USA zur Festnahme verpflichtet und bei der Schwere des Vorwurfes, bei dem es letztlich um das für die Demokratie grundlegende Recht der Meinungsfreiheit gehe, welches durch die staatliche Freiheitsberaubung verletzt worden sei, könne eine eventuelle diplomatische Immunität oder gar die Berufung auf die nach deutschem Verfassungsrecht bestehende Indemnität eines Parlamentsabgeordneten natürlich nicht ins Gewicht fallen.

Ist ein derartiger Fall, welcher unter Berufung auf die Wertegemeinschaft einer demokratischen Werteordnung wohletablierte Grundsätze des Völkerrechts und das einschlägige Verfassungsrecht entwertet, vorstellbar? Die Vorfälle häufen sich in der Tat, welche eine Entwicklung in diese Richtung als geradezu zwingend erscheinen lassen. Die Festnahme des chilenischen Senators Pinochet durch britische Behörden aufgrund eines Festnahmeersuchens eines spanischen Gerichts ist das jüngste Beispiel für weltstaatliche Entwicklungen, welche Völkerrecht und innerstaatliches Verfassungsrecht zur Makulatur werden lassen. Die "Europäer" scheinen den chilenischen Verfassungskompromiß nicht akzeptieren zu wollen, welcher in Chile die Rückkehr zur Demokratie möglich gemacht hat. Dieser vom chilenischen Volk bestätigte Kompromiß besteht auch darin, daß dem Senator Immunität für Vorfälle eingeräumt wird, die mit Maßnahmen zur Verhinderung eines von den politischen Kräften der Regierung Allende gewalttätig angestrebten kubanischen Totalitarismus im Zusammenhang stehen. Sicherlich muß ein ausländischer Staat, wie in diesem Fall Spanien, sein Strafbedürfnis (Verletzung der Rechtsposition seiner Staatsangehörigen) nicht dem Verfassungskompromiß eines anderen Staates opfern, jedoch sind er und der mit ihm kooperierende Drittstaat, in diesem Fall Großbritannien, verpflichtet, die Völkerrechtsinstitute zu akzeptieren, welche sich aufgrund derartiger Konstellationen entwickelt haben und die sich etwa in der diplomatischen Immunität ausdrücken.

Die Festnahme des chilenischen Senators ist die Fortsetzung einer Entwicklung, an deren Anfang die von der UN abgesegnete Sanktionspolitik gegen Libyen wegen Nichtauslieferung zweier Staatsangehöriger steht. Diese Sanktionspolitik ist völkerrechtlich unzulässig, da nach geltendem Völkerrecht kein Staat ohne Bestehen eines Auslieferungsabkommens zu einer Auslieferung verpflichtet ist und außerdem der Vorbehalt des Verfassungsrechts anerkannt wird, daß eigene Staatsangehörige nicht ausgeliefert werden müssen. Die Zustimmung der Bundesrepublik zu dieser Sanktionspolitik ist deshalb problematisch, weil mit ihrer Zustimmung damit von Libyen etwas erzwungen werden soll, was sie selbst verfassungsrechtlich auch nicht dürfte, nämlich Staatsangehörige zur Strafverfolgung ans Ausland auszuliefern.

Die Tendenzen zur internationalen Wertegemeinschaft entwerten nicht nur das gelegentlich auch Nicht-Demokraten im Rechtsreflex schützende Völkerrecht, sondern auch das national-staatliche demokratische Verfassungsrecht. – Meinen deutsche Politiker, sich bei Erlaß der "Volksverhetzung" mit dieser Werteordnung hinreichend akkommodiert zu haben, so daß ihnen das Schicksal von Senator Pinochet erspart bleibt?


 
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