© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/98  16. Oktober 1998

 
 
Kosovo-Krise: Deutschland wird in die neue militärische Globalstrategie eingebunden
Nato-Tornados über Belgrad?
Hans B. von Sothen

Der Rubikon ist überschritten. Mit der Entscheidung des Nato-Rats, den Einsatzbefehl "Activation Order" (Actord) in Kraft zu setzen, wird eine neue Qualität des militärischen Eingreifens gegenüber souveränen Staaten eingeleitet. Und sogar die deutschen Grünen können sagen: Wir sind dabei gewesen. Diesen Freitag wird der Bundestag über die Entsendung von Bundeswehr-Tornados in das Krisengebiet entscheiden. Inzwischen sind auch viele Linke bei SPD und Grünen bereit, für den Einsatz zu stimmen – gesetzt den Fall, es gibt dafür ein UN-Mandat. Aber gerade das ist fraglich. Sowohl Rußland als auch China, beide Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, sind strikt gegen den Militäreinsatz.

Der noch amtierende Außenminister Klaus Kinkel versucht deshalb klarzustellen, daß für den Einsatz der Truppen ein nochmaliges Befragen des Sicherheitsrates gar nicht notwendig sei. Kinkel stellt zunächst einmal das "Unvermögen des Sicherheitsrats" fest, seinem "Gewaltmonopol" gerecht zu werden. Eine Formulierung, die manchen aufhorchen ließ. Angesichts der "humanitären Krise" (Kinkel) fuße die Rechtsgrundlage des Einsatzes im Kosovo "auf Sinn und Logik der Sicherheitsratsresolutionen 1160 und 1199 in Verbindung mit dem Gesichtspunkt der humanitären Intervention und einem Mindeststandard in Europa für die Einhaltung der Menschenrechte, dem wir die Qualität eines sich entwickelnden regionalen Völkerrechts beimessen." Dies, so Kinkel, sei "ein Fall, in dem das Völkerrecht ein militärisches Tätigwerden zur Abwendung einer unmittelbar bevorstehenden humanitären Katastrophe, nachdem alle zivilen Mittel erschöpft" seien, "ausnahmsweise" erlaube. Dabei ist die Rechtsgrundlage dieses Einsatzbefehls keineswegs so sicher, wie Noch-Außenminister Kinkel dies darstellt. Einige der Formulierungen sind spürbar vage.

Schon innerhalb der Bundesregierung war in der Vergangenheit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Verteidigungsministerium keine Übereinkunft zu erzielen, ob Kapitel VII der UN-Charta (friedenserzwingende Maßnahmen) seit der Formulierung des Forderungskataloges des UN-Sicherheitsrates an die Konfliktparteien quasi automatisch und ohne weiteren Beschluß des Sicherheitsrates gelte, oder nicht. Ähnliche Differenzen bestehen auch zwischen SPD und Bündnisgrünen. Während der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Günter Verheugen, davon sprach, einen Einsatz könne es sogar ganz ohne UN-Mandat geben, wurde dies von den Grünen kategorisch in Abrede gestellt.

Die Rechtsgrundlagen des Einsatzes sind denkbar wacklig. Und ob schließlich ein sich gerade erst "entwickelndes regionales Völkerrecht", wie es Kinkel formulierte, eine solche Militäraktion zwingend gebietet, das bezweifeln nicht nur die Mitglieder des Weltsicherheitsrates, Rußland und China. Von vielen Völkerrechtlern wird das Existenz eines UN-Mandates ohne die Zustimmung des Sicherheitsrates schlicht abgelehnt. Ein Militäreinsatz gegen Belgrad ohne UN-Mandat wird zu langfristigen außenpolitischen Verwerfungen insbesondere mit Rußland führen. Für wie ernst Moskau die Lage hält, zeigt, daß es inzwischen nicht nur seinen miltärischen Vertreter bei der Nato zurückgerufen hat, sondern auch den zivilen Repräsentanten.

Deutschland hat inzwischen, wie die meisten anderen Nato-Staaten auch, die Konsequenzen gezogen und seit Montag den Flugverkehr nach Belgrad eingestellt und das deutsche Botschaftspersonal abgezogen. Deutsche Bundesbürger waren schon früher aufgefordert worden, die Bundesrepublik Jugoslawien und die bosnische Republika Srpska umgehend zu verlassen.

Auch für die deutsche Innenpolitik birgt die Entscheidung des Nato-Rats einige Unannehmlichkeiten. Den Sozialdemokraten und Grünen bietet der am Freitag zu treffende Bundestagsbeschluß jede Menge politischen Zündstoff. Die SPD will, so steht es in ihrem Wahlprogramm, daß die Bundeswehr jenseits der Grenzen "nur im Rahmen eines UNO- oder OSZE-Mandates für Friedensmissionen (…) eingesetzt werden kann." Die Grünen lehnen sogar friedenserzwingende Maßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta generell ab.

Das militärische Unternehmen in Kosovo, sollte es zu einem Eingreifen der Nato kommen, wird alles andere als ein Spaziergang werden. Mehrere Planspiele für den Einsatz sind bekanntgeworden. Eine Variante sieht Nato-Luft- und Landstreitkräfte im Umfang von 60.000 bis 100.000 Mann vor, ein zweiter Plan den Einsatz von bis zu 200.000 Mann und mehr als 400 Flugzeugen. Die jugoslawische Armee verfügt über 85.000 Mann, 1.300 Kampfpanzer, 1.100 Schützenpanzer, etwa 3.000 Panzerabwehrsysteme und mehr als 3.000 Geschütze größeren Kalibers, 14 Jagdflugzeuge des Typs MiG-29 und 80 MiG-21, sowie 60 Boden-Luft-Raketen. Gegner im militärischen Ernstfall wird allerdings voraussichtlich nicht die ganze Bundesrepublik Jugoslawien sein, denn Montenegro hat sich aus dem gefährlichen Spiel Milosevics ausgeklinkt. Deutschland hat dabei die Aufgabe übernommen, bereits in der ersten Angriffswelle mit 14 Tornados dabeizusein.

Hatte bereits Reichskanzler Bismarck vor über hundert Jahren festgestellt, daß der Balkan nicht die Knochen auch nur eines einzigen pommerschen Grenadiers wert sei, so scheint diese politische Weisheit zum zweitenmal in diesem Jahrhundert in Vergessenheit zu geraten. Vielen deutschen Politikern, vor allem auf der Linken, scheint der Ernst der Lage noch nicht klar geworden zu sein. Die Personengruppe, die man in der Heimat gern als Mörder abqualifizieren läßt, wird auf dem Balkan ihr Leben für die neue Weltordnung einsetzen. Und es sieht nicht so aus, daß es diesmal ohne Tote auf der Nato-Seite abgehen wird. Ist man hierauf in Deutschland politisch vorbereitet?

Auf welche Kapriolen bundesdeutscher Entscheidungsfindung man sich künftig im In- und Ausland gefaßt machen muß, hat nicht nur der Streit um den designierten Verteidigungsminister Scharping verdeutlicht, sondern auch die Tatsache, daß man sich nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei der künftigen Kanzlerpartei SPD in der Frage nach dem Nato-Einsatzbefehl um die Fraktionsdisziplin herumdrückt und die Sache "ausnahmsweise" zur persönlichen Disposition jedes einzelnen Abgeordneten stellt. Die neue Regierung Schröder/Fischer hat also mit einem politischen Offenbarungseid begonnen, noch bevor sie vereidigt wurde.

Allerdings muß man sicher kein Sympathisant von Milosevic oder gar von Vojislav Seselj sein, um ein Unbehagen bei dieser neuen Form der multinationalen Befriedung zu empfinden. Wenn in diesem Zusammenhang in den USA ganz offen von einem Durchbruch zu einer "Neuen Weltordnung" gesprochen wird, muß dies aufhorchen lassen. Speziell dann, wenn die juristischen Grundlagen des militärischen Einsatzes so offensichtlich konstruiert sind.

Sicher ist, daß Europa nicht einfach zusehen kann, wenn Greueltaten und Massenvertreibungen stattfinden, wie sie seit Mitte September an den Albanern verübt wurden. Doch spricht die UN-Charta auch von dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen und dem Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt, wenn man nicht selbst angegriffen wird. Und es ist bezeichnend genug, daß die einzigen, die heutzutage von diesem Selbstbestimmungsrecht der Nationen sprechen, ausgerechnet die deutsche antinationale Linke in der Jungen Welt und die Altkommunisten vom Neuen Deutschland sind.

Es ist zu befürchten, daß mit dem Einsatzbefehl Actord nicht nur kurzfristig die Unterstellung der deutschen Einsatzkräfte unter die operative Führung des Hauptquartiers "Shape" im belgischen Mons erfolgt, sondern daß eine ganz neue Form internationaler Konfliktbereinigung auf Deutschland, Europa und die Welt zukommt. Auf diese neue Art der internationalen Auseinandersetzung ist die Bundeswehr unter Kanzler Kohl und Verteidigungminister Rühe in den letzten Jahren zielstrebig umstrukturiert und umorganisiert worden. Weg von einer nationalen Armee, die nationale Interessen vertritt, hin zu einer global einsatzfähigen Armee, die vermeintlich globale Interessen vertritt. In dieser neuen Ordnung wird für das nationale Selbstbestimmungsrecht auf Dauer kein Platz mehr sein.


 
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