© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/98  16. Oktober 1998

 
 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Verantwortungsdenken
Karl Heinzen

Der Enthusiasmus über den Wahlausgang ist dem Gefühl gewichen, es mit einer neuen Selbstverständlichkeit zu tun zu haben. Ein erster Konsens über die wichtigsten Positionen, die es nun ad hoc zu besetzen gilt, zeichnet sich ab. 16 Jahre lang aufgestaute Modernisierungsmaßnahmen sind auf den Weg gebracht. Da ist es legitim, sich, noch bevor die Live-Wahl des Kanzlers durch den Deutschen Bundestag über die Bildschirme geflimmert ist, Gedanken über eine ideengeschichtliche Einordnung des Epochenwechsels zu machen. Die "Zeit" mahnt, und nach den Goldenen Jahren unter Helmut Kohl ist dies durchaus verständlich, dabei das Maß zu halten: "Nüchternheit wird zum Gebot der Stunde". Das kann nicht nur wörtlich gemeint sein.

Was aber meint Jürgen Habermas? Von seiner Sinnstiftung wird es schließlich abhängen, was zukünftige Generationen dereinst von Gerhard Schröder zu halten haben werden. Zunächst einmal ist festzuhalten: Die Spielräume für effektive Politik werden geringer und geringer. Daraus kann mindestens zweierlei gefolgert werden. Erstens: Politik darf und muß den Mut haben, auf Effizienz zu verzichten, so sie denn Politik bleiben will. Zweitens: Wenn Gerhard Schröder nicht in der Lage ist, den an ihn angelegten Meßlatten genüge zu tun, so liegt die Verantwortung dafür nicht bei ihm, sondern bei seinem Vorgänger, der den Staat mit der Reduktion seiner Aufgaben unschädlich gemacht hat. Über allen Ansprüchen, die hinsichtlich einer Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit an den Staat erhoben werden könnten, darf die spezifisch deutsche Erfahrung mit dem, wozu ein solcher außerdem oder vor allem imstande ist, nicht ausgeblendet werden. Kohl hat hier aus dem Instinkt seiner Generation heraus richtig gehandelt und die neu begründete Tradition des Verliererdeutschtums auch über die Klippe der Wiedervereinigung hinweg gerettet.

Gerhard Schröder kommt es hingegen zu, den Eliten unseres Volkes ihre Würde wiedergegeben zu haben: "Selbstbewußte Bürger nehmen die Abwahl eines Kanzlers selbst in die Hand." Echte Meinungsführerschaft lohnt sich wieder. Das Gefühl einer Vergeblichkeit des Denkens, das sich in der Ära Kohl eingestellt hat, macht der Einsicht Platz, daß sich Wirklichkeit erst durch Denken konstituiert. Was möglich ist, wird letztendlich nicht durch die Politik beeinflußt, sondern ergibt sich im Gespräch. Die neue Nähe zwischen Politik und Philosophie muß zu einer neuen Verantwortlichkeit des Denkens führen. Gerhard Schröder macht es möglich, Positionen zu vertreten, die aus dem bloßen Anrennen gegen Kohl nicht zu beziehen waren. Für sehr viele aus der geistigen Elite heißt es nun umzudenken: Bislang erwirkten sie öffentliche Zahlungsströme für kulturelle Widerstandshandlungen. Das ließ an der eigenen Relevanz handeln. Nun sind Leistungen und Gegenleistung gleichen Geistes. Da läßt sich gerne auf das bißchen Subversivität verzichten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen