© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Tierschutz: Starker Schiffsverkehr macht Pottwale taub
Die Vertreibung des "Moby Dick"
Ulrich Karlowski

Die Ozeane sind nicht mehr still. Ständig dröhnen und hämmern Schiffsmotoren und Bohrinseln, Explosionen von Erkundungs-Ölbohrungen und militärischen Unterwassersprengungen krachen gnadenlos. Gleichzeitig häufen sich Meldungen über Strandungen von Delphinen und Walen. Über einen Zusammenhang zwischen Unterwasserlärm und möglichen Schäden bei den sich akustisch orientierenden Meeressäugern streiten Wissenschaftler jedoch noch heftig. Einen derartigen Nachweis glaubt der Biologe Michel André von der Universität Las Palmas de Gran Canaria bei Beschallungsversuchen von Pottwalen entdeckt zu haben: Pottwale, die im Gebiet der Kanarischen Inseln leben, haben durch starken Schiffsverkehr bedingte Hörschäden und stoßen deshalb immer häufiger mit Fährschiffen zusammen.

Täglich etwa 100 Schiffe bewegen sich allein zwischen den Häfen Santa Cruz auf Teneriffa und Las Palmas auf Gran Canaria. Diese Gewässer sind aber auch der Lebensraum vieler Wal- und Delphinarten. Insbesondere Pottwale (Physeter macrocephalus) halten sich das ganze Jahr über hier auf.

Während die meisten Meeressäuger für die Schiffahrt keine Bedrohung darstellen – sie sind zu klein und weichen aus –, sind Pottwale aufgrund ihrer Größe und ihres ungewöhnlichen Tauchverhaltens zu einem Risiko geworden. Diese größte Zahnwalart taucht nach Ausflügen in über 3.000 Meter Tiefe unvermittelt auf, um dann 5 bis 15 Minuten knapp unter der Wasseroberfläche zu verharren – ein für Schiffsbesatzungen kaum sichtbares, bis über 50 Tonnen schweres und bis zu 20 Meter großes Seehindernis. Im Februar starb bei einer Kollision ein Passagier.

Um die Wale vor Zusammenstößen zu warnen, arbeiten Wissenschaftler an einem fest an den Fähren installierten Signalsystem. Eine Forschergruppe beschallte in einer 1997 begonnenen Versuchsreihe vom Forschungsschiff "Monachus" aus über Unterwasserlautsprecher Pottwale mit sechs verschiedenen Geräuschen und registrierte deren Reaktionen. Es wurden natürliche Laute und Geräusche wie Schwertwalstimmen – neben Riesenkalmaren und Piratenwalfängern die einzigen natürlichen Feinde von "Moby Dick" – oder typische Schiffsmotorengeräusche sowie künstliche Töne eingesetzt. Sämtliche Signale lagen im Frequenzbereich des Hörvermögens von Pottwalen (0,2 bis 32 kHz). Insgesamt 57 Tiere, sowohl einzelne als auch Herden, wurden aus einem Abstand von etwa 100 Metern zehn Sekunden lang mit etwa 180 Dezibel (dB) Lautstärke beschallt. Zum Vergleich: Ein Preßlufthammer nervt mit etwa 100 dB. Bei den Versuchen wurde der natürliche Pottwal-Lebensrhythmus aus Nahrungsaufnahme, Ruhezeiten an der Wasseroberfläche sowie kürzeren oder längeren Schwimmphasen berücksichtigt.

In jedem dieser drei Zyklen wurden die Signale nacheinander abgespielt. Obwohl die akustischen Überfälle der Forscher für Tiere infernalisch laut gewesen sein müssen, löste lediglich der 10-kHz-Impuls bei rastenden Walen eine Fluchtreaktion aus: sie verschwanden von der Oberfläche und wurden danach nicht mehr gesichtet. "Von den anderen Signalen ließen sie sich nicht stören, und während ihrer Schwimmphasen zeigten sie auch auf den 10-kHz-Impuls keine Reaktion", stellte Michel André verblüfft fest. Aber die Hoffnung auf das teilweise wirksame Signal zerschlug sich nach weiteren Versuchen. Spielte man den 10-kHz-Impuls den gleichen Tieren ein zweites Mal vor, ignorierten sie ihn.

Diese Ergebnisse machen nach Meinung von Michel André deutlich, welche Toleranz die bei den Kanarischen Inseln heimischen Pottwale bereits gegenüber Störgeräuschen entwickelt haben. Der durch Schiffsmotoren erzeugte ständige Lärmpegel könnte dazu geführt haben, daß ihr Hörvermögen besonders im Niederfrequenzbereich an Sensibilität eingebüßt hat. Die Suche nach einem effektiven Warnsystem, das Pottwalen weder zusätzlich schadet, noch sie gänzlich aus ihrem Lebensraum vertreibt, geht weiter, gestaltet sich allerdings weitaus komplizierter als zunächst angenommen.


 
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