© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Wechsel: Wolfgang Schäuble wird die Union nicht erneuern
Konkursverwalter der Partei
Hans-Georg Münster

Der Mann ist loyal. So loyal, daß er den Sturz von Helmut Kohl nicht betreiben wollte, weil der Königsmord die Union in den Abgrund gestoßen hätte. Den Stoß ins Nichts besorgten schließlich die Wähler. König Kohl ist so gut wie in Rente, und Wolfgang Schäuble gilt wundersamerweise immer noch als der analytischste Kopf der Bonner CDU/CSU-Fraktion und bald auch der CDU, deren Vorsitz er übernehmen wird, wie am Dienstag nach Beratungen von Parteipräsidium und Vorstand angekündigt wurde. Schäuble als der große Vor-, Quer- und Sonstwasdenker? Ein Irrtum, der die CDU teuer zu stehen kommen könnte. Denn der Mann im Rollstuhl wird seit vielen Jahren maßlos überschätzt.

Republik und Christenunion befinden sich in einem Interregnum, einer Zwischenzeit. Formal regiert Kohl noch das Land und die Partei. Am 27. Oktober wird der Oggersheimer im Kanzleramt von Gerhard Schröder abgelöst, am 7. November vollzieht die CDU auf einem vorgezogenen Parteitag den Wechsel von Kohl zu Schäuble. Das Interregnum der Republik ist dann vorbei, denn selbst Unternehmensberater wie Roland Berger schätzen Schröder als "starken Kanzler" ein. Die Zwischenzeit der Christlich-Demokratischen Union indes könnte andauern.

 

"Ich muß den Laden doch zusammenhalten"

Die Lebensleistung des Wolfgang Schäuble ist beachtlich. Der frühere Regierungsrat aus dem Finanzamt Freiburg hat eine glänzende Laufbahn hinter sich. Als Innenminister gestaltete er vor dem Attentat vor acht Jahren, das ihn vom dritten Brustwirbel abwärts lähmte, den deutschen Einigungsvertrag. Die ,,günstigen Merkmale seiner prämorbiden Persönlichkeit" (Der Spiegel) erlaubten es ihm, die Unionsfraktion von Alfred Dregger zu übernehmen und durch die Jahre zu bringen: "Ich muß den Laden doch zusammenhalten." Wenn ihm jetzt der CDU-Vorsitz zufällt, dürfte er damit im politischen Zenit stehen.

Seine Gegner sind zahlreich und stark: Da ist zunächst Schröder, der ,,Genosse der Bosse", der stets auf seine Herkunft aus kleinen Verhältnissen hinzuweisen pflegt – vom Typ können zwei Menschen nicht grundverschiedener sein. Gegen den "Automann" aus Niedersachsen wirkt Schäuble wie ein Junge aus der badischen Provinz. Dann Oskar Lafontaine – ein bissiger Rhetoriker. Der saarländische Lebemann ist beim Schlagabtausch im Bundestag Schäuble ebenbürtig. Glänzend bei den Grünen und Schäuble jederzeit auch stoppend ist Joschka Fischer. Dann noch Gregor Gysi, dessen wortgewaltiger Zynismus selbst den Schäubles noch übertrifft.

Und es kommt noch hinzu, daß er nicht integrierend und ausgleichend wirken kann. Widerborstige Abgeordnete, die, deprimiert von den Wochenenden im heimischen Wahlkreis, ihrem Unmut in der dienstäglichen Fraktionssitzung Luft machten, wurden vom Chef abgebürstet und fertiggemacht. Wolfgang Schäuble ist, Hans-Jochen Vogel hat es gesagt, "böse" geworden seit Attentat und nachfolgender Behinderung.

Lebensfreude, wie sie Schröder, Lafontaine, früher auch Fischer und selbst der Saumagenliebhaber Helmut Kohl verkörpern, ist dem Mann fremd. Wenn ganz Bonn sich abends besäuft, liest er Akten. Sein innerer Zustand sollte die Partei alarmieren. Wenn ein angehender Parteichef sagt, daß Sysiphus ein glücklicher Mensch gewesen sei, muß das mehr als nachdenklich stimmen. Schäuble versucht gerne, sich als den großen Denker darzustellen. Sein jüngstes Buch bekam nicht von ungefähr den Titel "Und sie bewegt sich doch". Damit greift er das das berühmte Wort von Galileo Galilei auf, zertrümmert aber im Gegensatz zu dem Astronomen keine geschlossenen Weltbilder wie das der stillstehenden Erde, sondern sieht den Standort Deutschland in Bewegung – und zwar in eine positive Richtung: "Die deutsche Wirtschaft ist wieder wettbewerbsfähig geworden – gerade in Sektoren, die unter einem besonders harten internationalen Konkurrenzdruck stehen." Damit ist praktisch alles gesagt. Spätestens in seiner übernächsten Rede im Bundestag wird Schäuble genau das Gegenteil behaupten und das Land dank der rot-grünen Regierung am Rande des Abgrunds wähnen.

Eine andere Botschaft seines Buches hat Schäuble selbst oft genug widerlegt: Keine Große Koalition. Diese Gedanken entsprächen, spottet der Fraktionschef, dem Denken von Kaiser Wilhelm II., der keine Parteien, sondern nur noch Deutsche gekannt habe. Die Große Koalition sei ein "Anschlag auf das Prinzip des Wettbewerbs". Im Wahlkampf wurde Schäuble dann nicht müde, die Große Koalition zu thematiseren. Dies geschah oft genug nach neuen niederschmetternden Umfragen. Damit ist ein weiterer Charakterzug des Wolfgang Schäuble offengelegt: Der Mann ist ein gnadenloser Taktierer. Bayerns Edmund Stoiber, bald als neuer CSU-Chef der unionsinterne Gegenspieler des CDU-Doppelfunktionärs, wetterte schon 1992, Schäubles ständiges Taktieren in der Asylpolitik hänge ihm zum Halse heraus. Damit ist schon einiges über das Verhältnis zwischen den künftigen Führern der beiden Unionsparteien gesagt: Es dürfte vom ersten Tag an gespannt sein und bleiben. Zu einer Männerfreundschaft sind beide nicht fähig.

Aus dem Handbuch des politischen Allerleis könnten Schäubles grundsätzlichen Ausführungen stammen. Er wettert in seinem Buch gegen "perfekte Lösungen", die nicht funktionieren könnten, verspricht mehr innere Sicherheit und lehnt den totalen Wohlfahrtsstaat ab. Schäubles Weg ist der "Weg der permanenten innovatorischen Revolution". Der ist anstrengend – für Schäuble jedoch "Voraussetzung für Zufriedenheit und ein Stück weit für Glück". Doch für Revolution standen die letzten 16 Jahre in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gerade nicht.

Dann kommt der Zyniker wieder durch, der früher einmal spöttisch davor warnte, zu schnell darüber zu diskutieren, ob die Menschen nicht im Bewußtsein der Politiker versagen könnten. Die Sorge der Bürger wegen der Euro-Währung ist für Schäuble ein typischer "Mechanismus der Angst". Die Menschen würden später "erstaunt über ihre vormalige Abwehrhaltung sein, wie sie es heute eingedenk der Ablehnung neuer Postleitzahlen sind".

 

Mischung aus Taktierei und Opportunismus

Den taktischen Spielchen ihres Fraktionsvorsitzenden verdankt es die Union, daß sie jetzt in der Not nicht einmal mehr einen zweiten Sitz im Präsidium des Bundestages bekommt. Schäuble hatte 1994 die SPD gegen die Grünen ausspielen wollen. Er sorgte dafür, daß mit Antje Vollmer erstmals eine Grüne Vizepräsidentin werden konnte, indem er die Geschäftsordnung des Hohen Hauses so manipulieren ließ, daß schließlich die Formel hinzukam, jede Fraktion stelle mindestens einen Vizepräsidenten. Die SPD, die als damals kleinere Fraktion zwei Vizeposten haben wollte, mußte sich mit einem begnügen. Die Grünen dankten es Schäuble nicht, sondern betrachteten Vollmers Vizejob mit Recht als Eintrittskarte zum Vorhof der Macht. Heute steht Schäuble als Vorsitzender der kleineren Fraktion als Opfer der eigenen Regelung da und muß sich mit einem Vizeposten für die CDU/CSU zufriedengeben. Während die PDS jetzt dank Schäuble ins Präsidium einrücken kann, geht die bayerische CSU leer aus.

Politik über den Tag hinaus ist Schäubles Sache nicht. Vor letzten Konsequenzen schreckt er zurück. Seine Taktierereien werden die Wähler der Unionsparteien dauerhaft nicht ertragen. Man kann sich heute noch über den Aussitzerkönig Kohl aufregen, der gar nichts machte, sondern der Lebensweisheit vertraute, daß viele Dinge sich durch Zeitablauf von alleine erledigen. Doch Schäubles Sucht, Lösungen um jeden Preis zu erreichen, befriedigt nichts und niemanden, sondern hinterläßt nur Frust über halbherzige Kompromisse. Beispiel: Die Pflegeversicherung, die selbst Helmut Schmidt nach eigenem Bekunden nie eingeführt hätte, brachte Schäuble auf den Weg, weil er die Kuh vom Eis haben wollte, die CDU-Sozialromantiker und Wirtschaftsliberale ständig entzweite. Dabei handelt es sich bei der Pflegeversicherung genau um den Marsch in den Wohlfahrtsstaat, den Schäuble in seinem Buch verdammt.

Diese Mischung von Opportunismus und Taktiererei hat im Wahlkampf nicht nur einmal Verwirrung gestiftet. Als habe er gemerkt, daß der Karren in Richtung Wand fahre, vertraute Schäuble dem Nacktmaganzin Playboy keine vier Wochen vor der Wahl auf die Frage an, ob Helmut Kohl nicht schon zu lange regiere: "Solche Gefühle kommen nach einer langen Regierungszeit immer auf." Auf einmal war es "politisch ungeschickt", daß der Einheitskanzler den Fraktionsvorsitzenden zum Thronfolger gekürt hatte. Wenn das wirklich ungeschickt war, hätte Schäuble dies dann nicht sofort nach dem Leipziger Parteitag vor einem Jahr sagen können? Damals schwieg er sich aus, um jetzt per Playboy Kohl zu bescheinigen: "Zuviel Freundschaftsbekundung kann schaden."

Dahinter steckte wieder die Überlegung, die CDU/CSU in eine Große Koalition zu führen, um wenigstens einen Teil der Macht erhalten zu können. Schäuble hatte in den letzten Jahren mehrfach die Nähe zur SPD gesucht, zum Beispiel bei den Verhandlungen über die Steuerreform, wo er bereit war, selbst wichtige eigene Positionen um der Problemlösung willen aufzugeben. Am 27. September hat die Union alles verloren, und Schäuble trägt einen großen Teil Mitverantwortung für das Desaster.

Jetzt soll der Fraktionsvorsitzende zusammen mit den ,,Jungen Wilden" die Partei wieder aufbauen und reif machen für die Rückeroberung der Macht. Er wird scheitern, weil er nicht strategisch denkt und handelt, sondern den kurzfristigen Erfolg sucht. Sicher kann Schäuble analysieren: "Wir regieren seit 16 Jahren und können in einem solchen Wettbewerb nicht gewinnen", stellte er im CDU-Vorstand nach der Niedersachsen-Wahl fest, bei dem der "Junge Wilde" Christian Wulff von Schröder regelrecht rasiert worden war. Die Analyse stimmte. Nur: Sie kam Jahre zu spät.

Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedekopf hatte bereits im April 1997 Kohls erneute Kandidatur als "besonderes Risiko" bezeichnet. Schäubles Reaktion auf das CDU-Desaster bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt mit dem Einzug der DVU in das Magdeburger Parlament bestand darin, das CDU-Wahlprogramm der neuen Lage anzupassen. Um den Rechten das Wasser abzugraben, forderte die CDU plötzlich ein schärferes Ausländerrecht mit schnellerer Abschiebung von Kriminellen. Straffällige Kinder sollten schneller ins Heim eingewiesen werden. Aus diesem Aktionismus spricht nun wirklich der Geist, daß die Menschen im Bewußtsein der Politiker versagt haben.

Aber die Garde, mit der sich Schäuble umgeben wird, paßt zu ihm. Die "Jungen Wilden" sind weder das eine noch das andere. Ob Roland Koch in Hessen, Christian Wulff in Niedersachsen oder der als Generalsekretär vorgesehene Andreas Krautscheid (ein nicht wiedergewählter Bundestagsabgeordneter): Sie alle haben ihr Leben der Partei verschrieben. Als Kohl vor einem Jahr in Leipzig in der CDU wieder die Zügel angezogen hatte, wurden aus "Wilden" plötzlich "Milde". Der Opportunismus ist ihnen genauso angeboren wie die Bügelfalte. Nach oben buckeln, nach unten treten: Das sind Charakterschwächen, die in diesen Tagen deutlich werden, wenn Wulff sich in der Bild-Zeitung beschwert, es sei "nicht nachzuvollziehen, daß Kohl schon wieder sagt, was kommt". Und Koch fordert, Kohl solle sich ,,aus dem aktiven Geschäft der Parteiarbeit weitgehend zurückziehen".

Der Saarländer Peter Müller liebäugelt mit einer Zeitgeist-Union, die endlich die Realitäten neuer Formen des menschlichen Zusammenlebens zur Kenntnis nehme und Deutschland als Einwanderungsland sehe. Das sind genau die Leute, die noch Mitte 1989 genau zu wissen glaubten, daß es zur deutschen Einheit nie kommen werde.

 

Am 7. November wird die CDU ein Politbüro wählen

Andere "Junge Wilde", die sich jetzt warmlaufen, sind absolut stromlinienförmig und hatten bereits im zarten Alter von Mitte 20 einen politischen Cw-Wert von fast null. Von Hermann Gröhe ist selbst politischen Insidern in Bonn nur das bekannt, was man auch von Matthias Wissmann weiß: Beide waren irgendwann mal Vorsitzende der Jungen Union, dem klassischen Durchlauferhitzer für spätere Parteikarrieren. Würden dort andere Dinge als Vorbereitungen aufs Mandat betrieben, hätte die Junge Union bereits vor Jahren angesichts der Weiter-so-Politik an den Rand der Verzweiflung geraten und ins rechte Lager abdriften müssen. Ein fast schmerzhafter Fall ist der junge Abgeordnete Friedrich Merz. Der zeichnete sich in den letzten Jahren durch Nibelungentreue zum Finanzminister Theo Waigel aus, dessen falsche Daten und Annahmen er nachplapperte. Wenn solche Leute ihre unzweifelhaft vorhandene Intelligenz eingesetzt hätten, wäre ihnen aufgefallen, daß Waigel die Führung des Finanzministeriums entglitten war und die Bilanzen mit Buchhaltertricks gefälscht wurden.

Insofern ist es lächerlich, von einem Generationenwechsel und Neuanfang der CDU sprechen. Gewiß, es kommen jüngere Gesichter. Aber bei verknöcherten Partei-Apparatschiks ist es egal, ob sie 35 oder 65 Jahre alt sind. Was die CDU zum Überleben braucht, ist nicht nur ein Politiker- sondern ein Politikwechsel. Doch die Leute dafür gibt es nicht. Der Machtmensch Kohl hat in 25 Jahren jeden plattgemacht, der seine Kraft zum eigenständigen Denken eingesetzt, den Eid auf die Verfassung ernst genommen und sein Handeln an der Verantwortung vor Gott und für das Volk orientiert hätte. Die CDU wird sich am 7. November – aus Mangel anAlternativen – keinen Vorstand, sondern ein Politbüro wählen. Kurt Hager läßt grüßen.


 
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