© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Einfach enttäuschend
Karl Heinzen

Die Union unter Kohl konnte den Mißbrauch von Sozialleistungen nicht abstellen, weil sie es nicht einmal übers Herz brachte, sich in diesen hineinzudenken. Die gehbehinderte alte Dame im sechsten Stock ohne Aufzug, deren letzter Spargroschen durch den Kabelanschluß aufgefressen wurde, der Medizinstudent aus kinderreicher Familie, der noch nicht weiß, wie er sich weiter den Besuch des Kirchentages leisten soll, der Sowjetflüchtling, der im Samisdat Werner Bergengruen nachdruckte und sich im Exil damit nicht länger über Wasser halten kann: So oder so ähnlich sehen die Fälle aus, die Menschen wie Norbert Blüm im Hinterkopf hatten, wenn sie bis vor kurzem Sozialpolitik trieben.

Mit sozialer Wirklichkeit hat dies seit zwanzig oder dreißig Jahren wenig zu tun, umso mehr mit dem moralischen Anspruch der Unionspoltik: Wer die Menschen wirklich liebt, nimmt billigend in Kauf, sie zu verkennen. Nur wer den Menschen Gutes zutraut, kann auch Gutes von ihnen verlangen. Das sture Beharren auf einem Ethos, das vermutlich nicht einmal zu den Hochzeiten der national-sozialistisch-christdemokratischenVolksgemeinschaft Allgemeingut war, hat es möglich gemacht, daß sich Sozialpolitik noch nicht auf die Vermittlung einer bitteren Wahrheit beschränkt: Die Bürger sollen mit ihrem Leben gefälligst allein zurecht kommen, aber der Staat wünscht Ihnen viel Erfolg dabei. Eines besseren lassen sich die Menschen nur von denen belehren, denen sie solches am wenigsten zugetraut hätten.

Neben der Verbannung von Marzipan-Naschvorräten aus dem Bundeskanzleramt liegt der Sinn sozialdemokratischer Modernisierungspolitik also darin, den Menschen jene Enttäuschungen zu bereiten, die die Regierung Kohl ihnen verwehrte. Schon vor dem Amtsantritt des neuen Kabinetts deutete alles darauf hin, daß diese Enttäuschung sogar eine dreifache werden könnte: eine über die Theorie, eine über die Praxis und eine darüber, daß beide soweit auseinanderklaffen. Für die der Theorie steht Bodo Hombach, der da sagt: Es ist besser, daß jemand mir Buletten brät als daß er arbeitslos ist und ich ihn durchfüttern muß. Solange in unserer Gesellschaft noch ungeputzte Schuhe herumlaufen, soll niemand vom Wert der Freizeit daherfaseln. Wer alt ist, hätte dies vorhersehen und selbst Vorsorge treffen können. Subventionen müssen neu ausgerichtet werden, schließlich gibt es einen grünen Koalitionspartner.

Für die Enttäuschung durch die Praxis steht Oskar Lafontaine: Ausgaben muß der Staat nicht finanzieren, sondern bezahlen können. Umverteilung soll sich wieder lohnen. Nur ein Staat, der wirtschaftspolitische Ziele formuliert, kann diese auf Märkten auch durchsetzen. Das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis hingegen ist Kanzlersache. Verspricht dies eine kurze Amtszeit? Es ist kaum zu erwarten, daß sich die neue Regierung an ihren Taten messen lassen wird.


 
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