© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Revolutionärer 3. Oktober
von Wilfried Böhm

"Wenn ein Deutscher einen Bahnhof stürmen will, kauft er sich vorher eine Bahnsteigkarte." Dieses verächtlich gemeinte und dem russischen Revolutionär Lenin zugeschriebene Wort straften weit über tausend Deutsche Lügen, als sie am Abend des 3. Oktober 1989 den Dresdner Bahnhof stürmten. Sie waren nach Dresden gekommen drei Tage, nachdem sechs Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn ausreisewillige "DDR-Bürger", die zuvor in die Deutsche Botschaft in Prag geflüchtet waren, über Dresden in den Westen gebracht hatten. Am Dresdner Bahnhof wollten sie nun neue Transporte erwarten und aufspringen, nachdem sie durch Gerüchte gehört hatten, daß am Abend des 3. Oktober wiederum solche Züge durch Dresden fahren würden.

Als die Nachricht von der Aussetzung des paß- und visafreien Verkehrs zur Tschechoslowakei am frühen Abend des 3. Oktober bekannt wurde, kam Unruhe bei den Menschen auf dem Dresdner Bahnhof auf. Als ein leerer Zug auf dem Gleis Richtung Prag einlief, stürmten 800 Menschen diesen Zug. Es gab kein Halten mehr: Die erste Schlacht auf dem Dresdner Hauptbahnhof begann und dauerte Stunden. In den folgenden Tagen setzte sich die Entwicklung fort, die an diesem 3. Oktober begonnen hatte und die schließlich zum Fall der Mauer, zum Ende der SED-Herrschaft und auf den Tag genau ein Jahr später zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik führte.

Ich habe es bedauert, daß der 17. Juni, der Tag des Volksaufstandes in Mitteldeutschland 1953, nicht Nationalfeiertag des vereinten Deutschland geblieben ist, sondern gewissermaßen der gemeinsame Gang zum Notar am 3. Oktober 1990 statt dessen dazu gemacht wurde. Doch was hilft’s – da der 3. Oktober es nun mal geworden ist, sollte er auch mit Leben gefüllt werden. Es muß endlich Schluß sein mit dem provinziellen Gezänk um die Gestaltung der Feierlichkeiten in den Hauptstädten der Bundesländer, in denen nun reihum alljährlich die zentralen Gedenkfeiern stattfinden. Die Deutschen haben allen Grund, den Tag ihrer wiedergefundenen Einheit immer wieder mit Freude zu begehen. Deshalb sollten am 3. Oktober stets der 17. Juni 1953 und der 9. November 1989 mitschwingen. Und deswegen zieht der 3. Oktober seine Legitimation als "Tag der Deutschen Einheit" nicht nur aus dem formalen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990, sondern auch daraus, daß genau ein Jahr vorher Deutsche in einer revolutionären Aktion den Dresdner Bahnhof stürmten, weil sie in die Freiheit aufbrechen wollten.


 
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