© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/98  02. Oktober 1998

 
 
Regrierungswechsel: Die Deutschen stürzen den Kanzler und zeigen, daß nicht nicht alles so bleiben muß, wie es ist
Bonner Republik abgewählt
Von Dieter Stein

Es wurde weniger Schröder gewählt – es wurde Kohl gestürzt. Der Sieg des SPD-Kanzlerkandidaten gründet nicht auf einem mitreißenden Regierungsprogramm, sondern auf der Ermüdung der Deutschen, die Helmut Kohl als Bundeskanzler nicht mehr sehen konnten. Wenn nicht die Wiedervereinigung 1990 dazwischengekommen wäre, hätten sie ihn wohl schon bei den regulär 1991 anstehenden Bundestagswahlen abgewählt. So katapultierte die Geschichte den Kanzler noch einmal für zwei weitere Legislaturperioden an die Spitze des Landes.

Ohne Zweifel bedeutet der erdrutschartige Sieg der Linksparteien eine riskante Situation in Deutschland: Die PDS hat sich gefestigt. Sie hat sich in den westlichen Bundesländern durchweg einen Sockel von 1 bis 3 Prozent zugelegt, auf dem sie aufbauen kann. Sie hat sich nicht auf die Position der Regionalpartei, einer roten CSU des Ostens, zurückgezogen, sondern hat sich als gesamtdeutsche, radikale Linke in Stellung gebracht, die die SPD und die Grünen bundesweit unter Druck setzen wird. Unter einer Regierung Schröder wird sich die PDS noch stärker profilieren können, weil Schröder Deutschland aus der Mitte regieren will.

Rot-Grün hat nun nach der Übernahme der Macht in der Mehrheit der Bundesländer auch die Schaltstellen des Bundes in der Hand. Jetzt beginnt in den Verwaltungen und bei Spitzenbeamten der Umtausch von Parteibüchern. Die Union wird durch die Bundestagswahl vernichtend auf den Status einer südwestdeutschen Regionalpartei mit Standbein in Sachsen zurückgeworfen. Sie verliert den Zugriff auf die Ressourcen des Regierungsapparates in Bonn. Die Steuerung der Öffentlichen Meinung, den Zugriff auf die Medien, der über das Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl zur hohen Kunst verfeinert wurde, verliert nun die Union – die SPD wird hier ihre Position um so stärker ausbauen.

Die bürgerlichen Parteien holen ihre strategischen Fehler der vergangenen Jahrzehnte nun mit aller Macht ein: Die bereits kurz nach der Machtübernahme 1982 abgeblasene "Geistig-moralische Wende" hätte die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig verändern können. Statt dessen setzte Kohl auf reine Machtsicherung um den Preis der Aufgabe von Grundsätzen.

Gerhard Schröder fiel es deshalb so leicht, eine "Neue Mitte" zu proklamieren, weil sich die Union der SPD bereits ununterscheidbar angenähert hatte. Kohl ließ Deutschland treiben. Seine Kunst des Aussitzens ließ Probleme auflaufen, die nun Schröder möglicherweise zügiger lösen wird. Das Problem der Zuwanderung: Hier mußte sich der CDU-Kanzler von Schröder eine härtere Gangart diktieren lassen. Seit seinem Regierungsantritt 1982 hatte sich der Ausländeranteil in Deutschland mehr als verdoppelt. Die demographische Katastrophe, der dramatische Geburtenrückgang in Deutschland ist nie zum Thema der Regierung Kohl gemacht worden.

Deutschland treibt nun auf rot-grünem Kurs. Das haben viele verhindern wollen und hätten deshalb noch einmal das "kleinere Übel" ertragen können. Dennoch ist der Wechsel eine Chance. Helmut Kohl steht als "Enkel Adenauers" symbolisch für die Republik Bonn. Es kann kein Zufall sein, daß im nächsten Jahr der Umzug von Bundesregierung und Bundestag nach Berlin ansteht, den Kohl nun nicht mehr miterleben wird.

Mit Helmut Kohl tritt eine ganze politische Generation ab. Der personelle Wechsel auf allen Etagen wird dem Land und einer in jeder Hinsicht festgefahrenen Politik allemal guttun. Es ist das erste Mal, daß in Deutschland nach dem Krieg eine Bundesregierung durch die Bürger abgewählt wurde – bisher geschah dies stets durch den Wechsel des Koalitionspartners FDP von der CDU zur SPD und zurück. Dies ist ein hoffnungsvolles Zeichen für unsere Demokratie. Es macht den Wähler souveräner. Nun weiß man, daß Wahlen mehr ändern können als ein paar Zahlen hinter dem Komma.

Die zeitgleich stattgefundene Volksabstimmung in Schleswig-Holstein zur Rechtschreibreform servierte den Regierenden eine weitere saftige Quittung für Arroganz und Bürgerferne. Man sieht: Protest lohnt sich! Engagement lohnt sich! Und: Unfähige Politiker können in einer Demokratie abgelöst werden.

Es wird sich zeigen, ob Schröder zum Spielball der Grünen und Lafontaines wird. Ob der Raum der geistigen Freiheit weiter oder enger wird. Ob nun linke Klientel-Politik angesagt ist oder ob das Land wirklich auf dem Weg zur "Berliner Republik" ist.


 
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